Danke, dass du mir hilfst, genauer hinzusehen! - demenzjournal.com
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Alzheimer & wir

Danke, dass du mir hilfst, genauer hinzusehen!

Peggy Elfmann mit ihrer Mutter

»Ich sehe an deinen Augen und an deinem Mund, ob es dir gut geht oder ob dich etwas unsicher macht«, schreibt Peggy Elfmann. Bild privat

Menschen mit Demenz können uns oft nicht mehr sagen, wie es ihnen geht und was sie jetzt gerade möchten. Peggy Elfmann hat gelernt, dass sie durch genaues Hinschauen sehr viel von ihrer still gewordenen Mutter erfahren kann.

Liebe Mama, jeweils am Welt-Alzheimertag dreht sich in den Medien viel um das Thema Demenz. Es gibt Vorträge, Filmvorführungen, Lesungen, Workshops und das ist wichtig und gut so, denn noch immer scheuen sich die Menschen darüber zu sprechen. Ich merke, wie schwer es Angehörigen und Menschen mit der Diagnose fällt, darüber zu reden. Und dabei wäre es doch so wichtig, diese emotionale Last und diese Ambivalenz der Gefühle äußern zu können.

Das Motto des Welt-Alzheimertages 2021 lautete: »Demenz – genau hinsehen!« Es erinnert daran, wie wichtig es ist hinzusehen, und ermutigt dazu, dies auch zu tun. Nur, wenn wir uns von unseren Bildern im Kopf und Vorurteilen lösen, wenn wir wirklich schauen, was der Mensch braucht, dann können wir ihn oder sie bestmöglich unterstützen. Und je genauer wir hinschauen, umso früher und besser können wir Menschen mit Demenz helfen. Deshalb gibt es zum Beispiel auch die Demenz-Partner-Kurse, die helfen sollen so viele Menschen wie möglich über das Thema Demenz aufzuklären.

Hinsehen auf dich und deine Bedürfnisse ist wichtig

Im Laufe deiner Alzheimererkrankung habe ich gelernt, wie wichtig das Hinsehen ist. Anfangs habe ich mich vor allem an Ideen und Wissen aus Ratgebern orientiert. Ich hatte dort gelesen, was Menschen mit Demenz brauchen und dachte, dass das genauso für dich gelten würde. Diese Informationen waren natürlich hilfreich, noch viel hilfreicher war es, mich neben dich zu setzen und dich zu beobachten oder dich zu fragen.

»Jede Demenz verläuft indviduell« – das sagte ja auch dein Arzt immer wieder und so ist es auch. Entsprechend individuell sind die Dinge, die jeder benötigt, um einen guten Weg mit der Demenz zu finden. Die werden durch das Hinsehen sichtbar. Ich weiß zum Beispiel, dass Bewegung und körperliche Aktivität wichtig sind. Aber es wäre nutzlos, dich an jedem Tag dazu zu drängen. Denn manchmal, da spüre ich, dass du vor allem Ruhe brauchst – und dann ist es wichtig, dir diese zu ermöglichen.

Ich sehe an deinen Augen, wie es dir geht

Früher habe ich nicht so viel auf dich gesehen. Wir konnten ja miteinander sprechen. Dass das jetzt nicht mehr geht, macht mich oft traurig. Aber ich merke auch, dass ich deshalb genauer hinschaue. Wir haben anders gelernt miteinander zu kommunizieren und das Hinsehen ist dabei für mich ganz zentral.

Ich sehe an deinen Augen und an deinem Mund, ob es dir gut geht oder ob dich etwas unsicher macht. Manchmal ist das Hinsehen ganz einfach: Wenn du mit großen Augen strahlst, dann sehe ich, dass du glücklich bist und dich freust. Wenn ich zu euch komme und dich begrüße, dann trägst du diese Freude offen in deinen Augen. Daran merke, dass du mich als deine Tochter erkennst.

Ich lerne durch dich das Hinsehen

Aber es ist nicht immer so einfach. Manchmal sind deine Zeichen viel zarter und vorsichtiger. Ein Zucken um den Mund etwa. Das verrät mir, dass du skeptisch bist oder dich vor etwas scheust. Wenn wir über eine Schwelle gehen müssen, merke ich die Veränderungen. Du spannst dich an, deine Hände bilden eine Faust. All das sind Dinge, die ich früher nicht immer sofort gesehen habe, weder an dir noch an meinen Kindern oder an jemand anderem.

Liebe Mama, du hast mir geholfen, mehr auf diese Zeichen zu achten. Du hilfst mir, genauer hinzusehen. Ich habe gemerkt, dass es vor allem Ruhe und Zeit braucht. Dass ich mich lösen muss von meinen Erwartungen und von meinen Vorstellungen – und all das habe ich durch dich und deine Demenz gelernt. Heute sehe ich nicht nur bei dir genauer hin, sondern vor allem auch bei meinen Kindern, bei Freundinnen – und bei mir.

Oft heißt es, Menschen mit Alzheimer würden sich verlieren und könnten nichts mehr. Doch das stimmt nicht: Liebe Mama, von dir kann ich viel lernen. Du bist meine Lehrerin in Sachen Hinsehen, trotz oder vielleicht sogar wegen deiner Demenz?

Danke, liebe Mama!

Deine Peggy


Dieser Beitrag erschien 2021 auf Peggy Elfmanns Blog Alzheimer und wir. Wir bedanken uns herzlich, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellt. Peggys Mutter ist im Winter 2024 gestorben.