Ein #MeToo-Moment im Pflegeheim?! Sie deuten es schon an: Was soll’s, könnte man denken, der Mann ist eben nicht mehr Herr seiner Sinne. Er redet so daher, merkt wohl gar nicht mehr recht, was er sagt. Und sich enthemmt zu gebärden, ist womöglich bloss Ausdruck seiner Demenz. Wozu ihn zurechtweisen?
Man könnte doch auch grosszügig darüber hinwegsehen, lächeln und ihm den Spass gönnen. Schliesslich grapscht er nicht, es geht bloss um einen dummen Spruch. Man muss ja nicht überempfindlich reagieren und aus einer Mücke einen Elefanten machen.
Schliesslich wusste schon der französische Philosoph Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert: «Alle Bewegung der Welt zielt nach Begattung; es ist allenthalben ausgegossene Materie, ein Mittelpunkt, nach dem alle Strahlen hinzielen.»
In heutiger Sprache und salopp ausgedrückt: Wir alle sehnen uns nach sexueller Vereinigung, ja, darauf richtet sich sogar unser ganzes Verlangen.
Seine Sexualität auszuleben gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen, fast wie Essen und Trinken. Und das soll man jemandem – einem kranken Mann zumal – verwehren, noch dazu in der harmlosen Variante einer schlüpfrigen Bemerkung?
Das Unbehagen lässt sich gleichwohl nicht beiseiteschieben. Denn die Wollust, so sie jenseits einer Liebesbeziehung gedeiht, degradiert die begehrte Person zum blossen Lustobjekt, führt Immanuel Kant, der berühmte Philosoph der Aufklärung, in seiner Vorlesung zur Moralphilosophie aus:
«Wenn [Menschen] sie bloss aus Geschlechterneigung lieben, so machen sie die Person zum Objekt ihres Appetits. […] Es liegt doch in dieser Neigung auf solche Art eine Erniedrigung des Menschen.» Kaum sei der Appetit gestillt, werde die oder der zuvor Begehrte links liegen gelassen, ebenso wie man eine Sache weglegt, sobald sie einen langweilt.
Und wer in den flüchtigen sexuellen Akt einwilligt, klassiert sich selbst als Objekt.
Wenngleich sich nur schwerlich von der Hand weisen lässt, dass der rein sexuellen Zuneigung verdinglichende Tendenzen innewohnen – steht deswegen gleich jeder Flirt unter Verdacht? Wohl kaum möchte jemand sexuelle Avancen gänzlich untersagen, trotz #MeToo – weil das Begehren zum Menschsein gehört und obwohl es bisweilen unheilvolle Folgen zeitigt.
Zudem liessen sich die Lüste nur schwerlich verbieten. Doch wo endet die Unverfänglichkeit, wo beginnt der Übergriff? Und wie sieht das aus, wenn jemand eine demenzielle Erkrankung hat?
Eines hat die #MeToo-Debatte ans Licht gebracht: Oft schwiegen (und schweigen) Frauen, wenn jemand sie sexuell belästigte oder ihnen Gewalt antat. Zu ihrer traditionellen Rolle gehört für Harmonie zu sorgen, Widerspruch hinunterzuschlucken und sich zu fügen.
Allein schon Übergriffe als solche wahrzunehmen, scheint keineswegs selbstverständlich, geschweige denn, sie als nicht hinnehmbar zu betrachten.
Womöglich treibt manch eine auch heute das Gefühl um, sie dürfe nicht aufbegehren, obwohl sie die Situation als beklemmend empfindet, erst recht nicht, wenn es um einen Kranken geht. Sie traut sich dann nicht, sich gegen die Bemerkung des Mannes im Pflegeheim zu verwahren und erträgt sie stumm. Aber vielleicht findet sie auch: Ach, so ein harmloser Spruch.
Wie lässt sich die Bemerkung über die Brüste also einordnen? War es nur ein argloser Scherz? Oder eine Aufdringlichkeit? Drückt sie den Wunsch nach einem Flirt aus? Die Hoffnung, trotz Alter und Krankheit als sexuelles Wesen angeschaut zu werden? Zuwendung und Liebe zu erfahren, Nähe und Intimität zu erleben?