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Systemrelevanz

Es ist nie genug

Könnte es sein, dass während der ganzen Coronazeit die Leistungen der Pflegenden auf den Intensivstationen beklatscht wurden, und gar nicht die Arbeit der Pflegenden in den Heimen? Bild Daniel Kellenberger

Der ständige Wunsch nach mehr Wertschätzung zeigt auf, dass viele Pflegende ihren eigenen Beruf nicht wertschätzen.

«Wir bekommen zu wenig Wertschätzung»

«Pflege erhält zu wenig Wertschätzung»

«Meine Wertschätzung ist enorm»
(Der Schweizer Ständerat Erich Ettlin im Rahmen der Debatte zur Pflegeinitiative in der Coronazeit)


Immer zu wenig Wertschätzung: Diesen gefühlten Mangel an Wertschätzung kenne ich aus meiner Zeit als Leiter der Sonnweid. Immer wieder kam dieses Wort an Teamsitzungen, Weiterbildungen, Gesprächen. In der Coronakrise hörten wir oft, dass es an Wertschätzung mangelt. Dafür klatschten dann alle von den Balkonen.

Wenn ich jemanden wertschätze, verstehe ich darunter, dieser Person und ihrem Tun einen moralischen Wert zuzuordnen. Damit sage ich, wie wichtig ihre Arbeit ist oder wie gut diese Person ihre Arbeit macht.

Fragt man Menschen, die nach mehr Wertschätzung rufen, was sie denn darunter verstehen, kommen berufspolitische Forderungen: mehr Lohn, mehr Anerkennung, mehr Entfaltungsmöglichkeiten, bessere Arbeitsbedingungen usw.

Nur das Lob von ganz oben kommt an

Gleichzeitig existiert der Wunsch nach einer nicht-monetären Wertschätzung. Dieser Aspekt scheint mir wichtiger als alle berufspolitischen Anstrengungen. Immer wieder machte ich die Erfahrung, dass ein Lob der direkten Vorgesetzten wenig oder gar keinen Wert hatte. Im Gegensatz dazu aber hatte ein Lob der übergeordneten Stellen einen sehr hohen Stellenwert.

Ein anderer Gedanke schliesst sich da an: Wenn ich nach Wertschätzung lechze, wenn ich dauernd das Gefühl habe, ich erhalte zu wenig davon, frage ich: Warum rufen Pflegende so sehr nach Wertschätzung – so, als würde es ihrem Selbstverständnis als Pflegende einen höheren Stellenwert geben?

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Den Ruf nach Anerkennung kann ich durchaus nachempfinden. Der dauernd empfundene Mangel an Wertschätzung zeigt aber deutlich, dass es vielen Pflegenden selbst an Wertschätzung gegenüber ihrem eigenen Beruf mangelt. Und das lässt sich nicht einfach wegmachen, indem jetzt alle sagen, wie wichtig die Arbeit der Pflegenden ist.

Und noch ein Gedanke, der sich in mir breitmacht: Könnte es sein, dass in der ganzen Coronazeit die Leistungen der Pflegenden auf den Intensivstationen beklatscht wurden und gar nicht die Arbeit der Pflegenden in den Heimen?

Pflege im Pflegeheim, das ist tägliche Arbeit direkt bei den Menschen, da braucht es keine Beatmungsgeräte, bedient von Expertinnen der Intensivmedizin. Im Pflegeheim braucht es die Expertin für Beziehung in schwieriger Lebensphase, ob mit oder ohne Corona. Für die hat wohl niemand geklatscht.

Negatives Bild der Demenz-Pflege

Könnte es auch sein, dass eine dementielle Erkrankung herhalten muss für das, was man auf keinen Fall bekommen will, dass mit diesem Negativbild auch all das verbunden wird, was man an negativen Vorstellungen zu einer Pflege von demenzerkrankten Menschen in sich trägt?

Wie kann demnach eine Arbeit wertgeschätzt werden, wenn der Grund für diese Arbeit ein negativ und angstbesetzter Grund ist?

So betrachtet, erhärtet sich der Verdacht, dass Applaus für die sterile, hochtechnisierte Welt der Intensivpflegenden gespendet wurde. Damit wurde auch eine Spaltung der Pflege sichtbar, die ich persönlich sehr begrüsse.

Erst wenn dieses Tun mit den alten dementen multimorbid erkrankten Menschen als eigenständiges Gebiet der Betreuung und Pflege wahrgenommen wird, erst wenn akzeptiert wird, dass umfassend auch umfassend bedeutet, erst wenn die Menschen in der gerontologischen Umgebung ihr eigenes Tun wertschätzen, erst dann wird es gelingen, darüber zu sprechen, was in diesem Beruf getan werden kann.

Ein regelrechter Zusatzausbildungszwang wirkt auf den ersten Blick wertschätzend. Auf den zweiten Blick sagt dies nichts anderes aus, als dass die Aufgaben direkt beim Menschen weniger wert sind als die Aufgaben mit einem der diversen akademischen Abschlüsse.

Mathias Binswanger bezeichnet diese höheren Tätigkeiten in einem Gastkommentar der Neuen Zürcher Zeitung als nicht systemrelevant, da sie nicht mehr direkt beim Menschen stattfinden.

Er geht so weit zu betonen, dass man durch ein Hochschrauben der Bildungsanforderungen für Pflegende eine bessere Entlöhnung der Mitarbeitenden an der Basis sogar verhindert (das Geld brauchen die Besserausgebildeten) und dass letztendlich nur Bürokratie ausgebaut wird.

Entfernen von der Basis wird belohnt

Die Corona-Pandemie zeigt auf verschiedene Arten deutlich, dass etwas nur den Wert hat, den jemand bereit ist, für das «Produkt» zu bezahlen (siehe Gesichtsmasken).

Für das Produkt «Pflege von alten und demenzkranken Menschen» ist auch heute niemand bereit hinzustehen und zu sagen, dass wir diesen an der Basis Arbeitenden Perspektiven geben müssen:

Die Arbeit an der Basis ist der Wert, und dafür sollen sie Wertschätzung erhalten, nicht für die vielen Graduierungen und Titel.

Das derzeitige System belohnt die Anstrengungen all derer, die sich von der Basis entfernen wollen. Es bestraft diejenigen, die an der Basis arbeiten wollen oder müssen.

Wenn ich Wertschätzung nur dann bekomme, wenn ich nicht mehr in der direkten Pflege, direkt beim Menschen arbeite, dann führt sich das System selbst ad absurdum.

Denn diejenigen, die im Pflegeheim jeden Tag mit den Menschen sind, die werden schlichtweg vergessen. Und wenn sie vergessen gehen, brauchen wir über sie nicht zu reden, und schon gar nicht mit ihnen.

Geringe Verweildauer im Beruf ist nichts Neues

Die Diskussionen über Rahmenbedingungen sind wichtig. Es gab auch vor 30 Jahren die Aussteigerinnen nach der Ausbildung, die Verweildauer in der Pflege war immer geringer als in anderen Berufen, das ist kein neues Phänomen. Was macht denn den Beruf angeblich so unattraktiv?

Es ist die Arbeit in der Nacht, die Beziehungsgestaltung, diese Notwendigkeit, sich ganz einzubringen, sich dem Gegenüber zu stellen – und damit auch der eigenen Person. Wenn man diese Aspekte mehr wertschätzen und ihnen einen anderen Stellenwert geben würde, könnte sich tatsächlich nachhaltig etwas verändern.

Systemrelevanz würde dann mit einschliessen, dass Pflegende stolz darauf sein können, dass ihr Tun 24 Stunden gebraucht wird, ohne Pause, auch in den Sommerferien.

Dann wird diese Wichtigkeit nicht mehr als Problem gesehen, sondern als Alleinstellungsmerkmal einer ganzen Branche. Das wäre ein Anfang.