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Unser Törn ins Vergessen (24)

Und die Ambulanz raste an uns vorbei…

Bernd Martens am Ruder.

Bernd Martens steuert das Boot seines Sohnes sicher durch die Windungen der Eider. Mit der Bedienung der Bordtoilette kommt er aber nicht mehr zurecht. Bild privat

Auf dem Segeltörn mit seinem Sohn hat Bernd Martens einen epileptischen Anfall. Es kommt zu dramatischen Szenen – und dann rast auch die herbeigerufene Ambulanz am Hafen vorbei.

7. Dezember 2022

Während ich mich nach unserem gemeinsamen Frühstück an den PC zurückgezogen habe, um über meine Pankreatitis zu schreiben, hat Monsieur Alzheimer dich dazu gebracht, den Abendbrottisch zu decken. Ich habe ihn dezent wieder abgedeckt und dich angeregt, das Wohnzimmer zu saugen. Ausfegen, staubsaugen – das klappt noch und du machst es gern. Trotzdem fühle ich mich schäbig, dass ich mir so meine Schreibzeit erschleiche.

Ich denke daran, wie liebevoll du mich bei meinen Schüben umsorgt hast, wie du mir Kamillentee gekocht und mir die Wärmflasche auf den Bauch gelegt hast. Und ich schicke dich Staubsaugen! Doch ich kann nicht den ganzen Tag mit dir alte Fotos angucken, mir anhören, wie Johnny dir als Kind mit der Gabel auf die Hand geschlagen hat und wie deine Mutter dich zum letzten Mal umarmt hat (Mien Jung! Mien leeve Jung!). Eine Stunde noch hier vor dem PC! Danach werde ich dir wieder geduldig lauschen, interessiert nachfragen, dir Orientierung in deinen brüchig werdenden Erinnerungen verschaffen.

9. Dezember 2022

Beim Frühstück hattest du wieder einen epileptischen Anfall. Der fünfte bisher. Obwohl er diesmal recht heftig war und bestimmt fünf Minuten dauerte, haben wir beide ihn schon fast routinemäßig abgewickelt. Deine Klage, der Gürtel sitze zu eng oder vielleicht sei es auch die Unterhose, ließ meine Alarmglocken läuten, denn genau so begann es auch bei den drei vorangegangenen Anfällen.

Es sind deine Bauchmuskeln, die sich als Erstes verhärten. Ich rückte meinen Stuhl neben deinen und hielt dich fest, denn schon ging es los: Du stöhntest, wurdest bewusstlos, deine Arme und Beine schlugen aus. Ich hielt dich fest und redete beruhigend auf dich ein. Als der Spuk vorbei war, ging es dir bald wieder gut und als ich dir am Nachmittag erzählte, wir hätten am Montag einen Termin bei deiner Neurologin,  fandest du den höchst überflüssig. Epileptischer Anfall? Sowas hättest du ja noch nie gehabt.

Der erste war ein Drama. Wir waren bei S. an Bord seines neuen Segelbootes. Nach der schmerzlichen Trennung von unserem alten Jollenkreuzer Timpe Te, hatte S. uns im Sommer 2020 angeboten, bei ihm anzumustern. Was konnte es für uns im ersten Corona-Sommer Verlockenderes geben als die Elbe runter zu segeln, vor unbewohnten Inseln zu ankern, im Watt trocken zu fallen und dann  – ahoi, auf ins Meer der Halligen! Wir witzelten vergnügt über den bevorstehenden Rollentausch.

Jetzt war unser Sohn der Schipper und du würdest dich den Anweisungen des jungen Mannes fügen müssen, der seinen ersten Törn als drei Monate altes Baby in der Hundekoje auf Timpe Te gemacht hat. Doch damit hattest du keine Probleme. Probleme machte uns das Wetter. Nach einem bruttig heißen Tag folgte ein Temperatursturz, es wurde stürmisch und regnerisch und die Vorhersage versprach für die kommende Woche keine Besserung. Wir entschieden uns für die geschützte Passage durch den Nord-Ostsee-Kanal und die Eider.

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Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Trotz der widrigen Bedingungen machte dir das Leben an Bord sichtlich Spaß. Du übernahmst sogar immer mal wieder das Ruder und steuertest das Boot gekonnt durch die unzähligen Windungen der Eider. Schwieriger war für dich die Benutzung der bordeigenen Toilette. Die Bedienung von Seeventil und Pumpe hatte S. dir mehrmals erklärt, aber das fiel durch das Sieb deines Gedächtnisses. Nach einer Woche hatten wir Tönning erreicht, einen malerischen Hafen an der Eider, hatten es gewagt, im Garten eines Restaurants essen zu gehen und saßen abends gemütlich in der Kajüte und klönten.

Plötzlich klagtest du über Bauchschmerzen. S. bot an, Kamillentee zu kochen, ich riet dir, dich lang zu machen, da sacktest du schon bewusstlos zusammen. Erschreckt sah ich in blicklose Augen. S. rief sofort die 112 an, schilderte den Vorfall und gab unseren Standort durch, konnte sogar den Namen der Straße angeben, an der der Hafen lag. Das wäre in einem Notfall wie z. B. einem Herzinfarkt,  bei dem es auf jede Sekunde ankommt, theoretisch hilfreich gewesen, praktisch war es in diesem Fall das Gegenteil.

S. lief den erwarteten Rettern auf dem Steg entgegen, um sie zum Boot zu führen, musste jedoch mit ansehen, wie der Wagen mit Blaulicht am Hafen vorbeiraste. Er lief rufend, winkend, doch unbemerkt hinterher, bis zum Campingplatz, der ganz am Ende der Straße lag. Als er außer Atem ankam, kurvten die Sanitäter dort suchend nach ihrem Einsatzort herum. Die Information »Hafen« war offenbar von der Zentrale nicht weitergegeben worden, nur der Straßenname.

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Zum Glück blieb die verlorene Zeit in deinem Fall ohne Folgen, denn du warst schon wieder bei Bewusstsein, als die beiden jungen Männer mit ihrem schweren Notfallkoffer an Bord kletterten und hast bei der Untersuchung sogar schon mit ihnen gescherzt. Sie stellten fest, dass dein Kreislauf stabil war, fanden keine rechte Erklärung für deine kurzzeitige Bewusstlosigkeit (vielleicht zu wenig getrunken?) und rieten dazu, am nächsten Tag den hiesigen Hausarzt aufzusuchen.

Der Arzt in Tönning war ein guter Diagnostiker. Er vermutete gleich, dass es sich um Epilepsie als Begleiterkrankung deiner Demenz handeln könne und riet uns zum Abbruch unseres Segeltörns und zu einer neurologischen Abklärung in Hamburg. Mit diesem Schock endete unser erster Törn auf dem Segelboot unseres Sohnes leider schon nach einer Woche. Wir fuhren mit dem Zug zurück nach Hamburg, bekamen recht schnell einen Termin bei einer Neurologin, die nach diversen Untersuchungen die Vermutung des Arztes aus Tönning bestätigte und dir ein Antiepileptikum verschrieb, das die Anfallshäufigkeit verringern soll.


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

> Hier geht’s zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch