Monsieur A. scheucht Bernd durch die Wohnung - demenzjournal.com
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Unser Törn ins Vergessen (15)

Monsieur A. scheucht Bernd durch die Wohnung

Insel Gröde im Schleswig Holsteinischen Wattenmeer.

Eimsbüttel, Gröde (auf dem Bild) oder Finkenwerder? Bernds Zuhause ist nicht mehr sein Zuhause. Bild privat

Bernds Wertvorstellungen sind noch präsent, doch er kann nicht mehr mit Birgit darüber diskutieren. Dafür sucht und findet er täglich mehrmals sein Portemonnaie.

21. Oktober 2022

Wie gern würde ich mit dir über all das sprechen! Wir hören Nachrichten beim Frühstück. Danach läuft eine Diskussionssendung. Wie soll man Putins Angriffskrieg auf die Ukraine begegnen? Verhandlungen? Appeasement? Sanktionen? Waffen liefern? Welche Waffen liefern und welche nicht? Einknicken vor der Atombombendrohung oder nicht?

Du: Atombomben gehören abgeschafft!

Ich: Wohl wahr. Aber wie?

Du: Die müssen sich einfach nur mal zusammensetzen und vernünftig miteinander reden.

Ich: Stattdessen streben immer mehr Staaten nach Atomwaffen.

Du: Atomwaffen gehören abgeschafft.

Unsere jahrzehntelangen Gewissheiten hast du konserviert und kannst sie noch abrufen. Differenzieren, hinterfragen, auf neue Situationen anwenden – das ist dir nicht mehr möglich. Und so schalte ich die Diskussionssendung ab und zeige dir lieber die Videos, die uns A. von seiner neuen kleinen Katze geschickt hat. Die charmante Mini-Tigerin bezirzt uns beide mit ihren wilden Sprüngen, ihren Scheinangriffen auf A’s Hand, ihrem Versteckspiel im Karton und Haschen nach hüpfenden Filzmäusen. Auf anderen Videos liegt sie entspannt schlafend herum, streckt sich zu maximaler Länge, lässt sich genussvoll den weißen flaumigen Bauch kraulen.

Ich versuche bei dir Erinnerungen an unseren geliebten Kater Lo Po zu wecken. Und tatsächlich sind die noch erstaunlich präsent. Er war eine Seele von Kater, da sind wir uns einig. Hat sich sogar von den Kindern im Puppenwagen herumfahren lassen. Natürlich nur, wenn er wollte. Uralt ist er geworden, war zum Schluss blind und schlief fast nur noch. Aber was gibt es Gemütlicheres als eine schlafende Katze auf dem Sofa!

Du lächelst, als ich das sage und nickst. Ich gebe dir einen Kuss.

Falsche Idylle angesichts der Zeitläufte? Ab und zu brauche ich die.

22. Oktober 2022

Ich habe gerade durchgelesen, was ich bisher geschrieben habe. Ziemlich chaotisch das Ganze und ohne zwingende Dramaturgie, scheint mir. Aber das entspricht durchaus meinem Erleben in den letzten Jahren. Vermeintliche Sicherheiten sind weggebrochen und aus einer erwartbaren Zukunft wurde eine unberechenbare Gegenwart.

Du würdest mich jetzt zur Gelassenheit ermahnen, wenn dir nicht Monsieur A. im Nacken säße. Der scheucht dich ständig durch die Wohnung auf der Suche nach deinem Portemonnaie. Der Klassiker, wie ich aus den vielen Broschüren weiß. Dennoch bin ich verblüfft, wie vorhersagbar es abläuft. In der Anfangszeit hast du dein Portemonnaie öfter mal verlegt. Wenn wir es dann wiederfanden, legten wir es an seinen gewohnten Platz in der oberen Schublade im Flurschrank und die Sache war für geraume Zeit erledigt.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

Jetzt hast du innerhalb von drei Tragen dein Portemonnaie achtzehn Mal verlegt (ich habe mitgezählt). Wenn ich dich dazu überreden kann, es an seinen gewohnten Platz zu legen, ist es eine halbe Stunde später schon wieder weg. Wir finden es dann in deinem Schreibtisch, zwischen Büchern im Regal versteckt, unter Papierhaufen im Chaos deines Kabuffs, auf dem Klopapierhalter, auf deinem Nachttisch, unter deinem Kopfkissen wieder. Ich habe Mühe, dich zu überreden, es wieder in die obere Schublade im Flur zu legen, denn dort ist es dir nicht sicher genug. Irgendjemand hat es von dort entwendet und das warst auf keinen Fall du. Ein Dieb muss in die Wohnung eingedrungen sein.

Wir sind jetzt also im Stadium imaginärer Diebe angekommen. Auch ein Klassiker. Zum Glück beschuldigst du noch nicht mich. Es gibt allerdings vieles, was du mir nicht mehr glaubst. Du glaubst mir nicht, dass deine Eltern tot sind. Du hast erst gestern mit ihnen telefoniert. Du glaubst mir nicht, dass du Rentner bist. Du fährst ja jeden Tag nach Finkenwerder ins Büro. Du glaubst mir nicht, dass deine Klamotten nicht in Finkenwerder sind. Da sind noch deine besten Pullover.

Monsieur A. reißt dich immer weiter zurück in die Vergangenheit und die spielt in Finkenwerder.

Du: Ich muss mal wieder nach Hause fahren. In Finkenwerder wundern sie sich schon, dass ich mich so lange nicht blicken lasse.

Ich: Du bist doch hier in Eimsbüttel zuhause.

Du: Ja, auch. Manchmal vielleicht.

Ich: Seit 40 Jahren wohnen wir hier.

Du: Nein, das verwechselst du. Du bist vielleicht hier zuhause. Ich nicht.

Ich: Bist du denn nicht bei mir zuhause?

Du: Doch natürlich. Was wäre ich denn ohne dich! Du schaust mich kopfschüttelnd an. Auf was für seltsame Ideen du kommst! Du bist doch mein Zuhause.

Ich: Ja, das bin ich. Und das ist schön.

Du: Aber ich muss endlich mal wieder nach Finkenwerder fahren. Da warten sie schon auf mich.

Während ich dies schreibe, höre ich die Schublade im Flurschrank zuklappen. Mal sehen, wo dein Portemonnaie diesmal landet.


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

> Hier geht's zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch.