Alzheimer-Logbuch: Es wird langsam gefährlich
chatbot

Unser Törn ins Vergessen (28)

Dass frau mit fast 70 so eitel sein kann!

Birgit Rabisch Timpe Te

Da war die Welt noch in Ordnung: Birgit und Bernd auf ihrem Jollenkreuzer Timpe Te. Bild privat

Bernd verliert in immer kürzer werdenden Abständen seine Sachen – und benutzt Küchenmaschinen auf gefährliche Art und Weise. Birgit patrouilliert mehrmals täglich durch die Wohnung und schaut nach dem Rechten.

29. Dezember 2022

Ich tue dem Film, den ich im letzten Logbuch kritisiert habe, Unrecht. Er gehorcht den Gesetzen des Films. Ich bin nur neidisch, dass ich in der Realität leben muss. Da kann ich nicht einfach abblenden, wenn es langweilig, mühsam, nervtötend wird. Also erfreue ich mich an einer Sternstunde unseres Alltags: Ich habe deinen Fotoapparat wiedergefunden! Ganz unten in deiner Sockenschublade. Du strahlst und knipst gleich ein paar Fotos von mir. Die meisten lösche ich später heimlich, weil mir meine Haare zu fettig und meine Falten zu ausgeleuchtet sind. Dass frau mit fast 70 Jahren noch so eitel sein kann! Ich amüsiere mich über mich selbst. Zum Glück kann ich inzwischen wenigstens das: meine Fehler mit mildem Spott betrachten statt mit zersetzender Selbstkritik.

Gemeinsam legen wir deinen Fotoapparat an seinen Platz in den Flurschrank zu deinem ausgemusterten analogen Fotoequipment.

Dann weißt du, wo du ihn findest, sage ich.

Natürlich weiß ich, wo meine Fotosachen sind, antwortest du und ziehst deine alten Canons hervor. Die sind doch viel besser als dieser neumodische Knipsapparat! Warum benutze ich die denn nicht?

Weil sie kaputt sind.          

Das glaube ich nicht. Die waren noch nie kaputt. Lass mich mal sehen.

Ich lasse dich mal sehen. Während ich das Mittagessen koche, bist du mit deinen alten Fotoapparaten beschäftigt. Als ich dich zum Essen hole, schüttelst du ärgerlich den Kopf:

Die sind ja alle kaputt!

Ja, sage ich, schade. Aber du hast ja deinen neuen, den S. dir geschenkt hat.

Wo soll der denn sein?

Ich öffne den Flurschrank. Dein neuer Apparat liegt nicht mehr dort. Ich frage nicht: Wo hast du den jetzt wieder hingetan? In der kurzen Zeit? Ich sage nicht: Wir haben ihn doch gerade erst an seinen Platz gelegt, damit du ihn wiederfinden kannst! Warum lässt du ihn nicht einfach dort liegen? Das frage und sage ich nicht und bin zufrieden mit mir. Langsam lerne ich, mir Kommentare zu verkneifen, die dich nur beschämen. Ich sage nur:

Komm. Das Essen wird sonst kalt.

30. Dezember 2022

Diesmal war dein Fotoapparat leicht wiederzufinden. Er lag auf dem Nachttisch neben deinem Portemonnaie, beide vor den begierigen Augen von Dieben getarnt durch einen locker darüber gestreuten Haufen Klopapierschnipsel. Außer als Tarnmaterial verwendest du sie als Taschentücher. Das Päckchen Papiertaschentücher, das ich dir hingelegt habe, bleibt unbenutzt. Nicht sparsam und ressourcenschonend genug!

Schwierig ist es mit dem Energiesparen, auf das du früher immer wie ein Luchs geachtet hast. Jetzt muss ich ständig das Licht ausschalten, das in Räumen brennt, die du längst verlassen hast. Das Problem, dass du Lebensmittel aus dem Kühlschrank nimmst, um sie in der Mikrowelle zu erwärmen, nur um sie kurz darauf wieder in den Kühlschrank zu tun, hat sich dadurch gelöst, dass du auch Messer und Gabeln (Metall!) zum Abtrocknen in die Mikrowelle gelegt hast. Daraufhin hat sie sich mit einem kurzen, aber heftigen Knall verabschiedet und so kann sie nicht mehr sinnlos Strom verbrauchen.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

Jetzt spenden

Wenn ich nicht aufpasse, benutzt du aber den Toaster, um die Teekanne warmzuhalten oder das Stövchen, um Brot zu toasten. Am meisten Energie frisst natürlich die Heizung (ausgerechnet Gas!), wenn du sie voll aufdrehst, um kurz danach zu lüften oder den aufgeheizten Raum zu verlassen und die Tür offen stehen zu lassen.

Gut, dass der Ingenieur in dir, der Prozessöfen in der Industrie auf Effizienz getrimmt hat, davon nichts mitkriegt.

Obwohl ich wie Miss Kontrolletti persönlich in kurzen Abständen durch die Wohnung patrouilliere, Thermostate runterdrehe, Fenster und Türen schließe, haben wir wohl wenig Chance, unseren Energieverbrauch in diesem Jahr des russischen Krieges gegen die Ukraine um 20% zu senken. Wir haben ihn schon seit Jahren wegen der Erderhitzung so niedrig wie möglich gehalten. Ich fürchte, unter den gegebenen Umständen ist kaum noch Ersparnis möglich, auch wenn wir unseren 30 Jahre alten Kühlschrank vor einem Monat durch ein neues Modell ersetzt haben.

Dann ist das jetzt eben so. Diesen simplen Satz sage ich mir auch in diesem Fall vor. Einen Teil unserer Energierechnung werde ich unter Krankheitskosten verbuchen. Das Zusammenleben mit einem an Demenz Erkrankten bedeutet auch Abschied nehmen von gewohnten Vorstellungen, wie etwas zu sein hat oder vonstattengehen sollte. Mir fällt das nicht leicht, obwohl ich mich darin ja schon in der Zeit üben konnte, als meine Söhne noch klein waren.

Das Tagebuch (91)

»Schaut her, wie ich mich aufopfere« 

Paul ist schwierig geworden, er kann sich nicht ausdrücken, man versteht ihn nicht, er wird wütend, wenn er erkennt, dass wir nicht begreifen. … weiterlesen

Auch Kinder sind eigenwillig und unberechenbar und sprengen oft das vorgegebene Korsett von Absichten und Plänen. Man kommt zu spät, weil der Knirps unbedingt noch nach einem verlorenen Legostein suchen muss. Man muss das Kind mit bekleckertem T-Shirt dem Kinderarzt präsentieren, weil nur das mit dem Supermann-Aufdruck die Kraft für diesen Angst einflößenden Besuch schenkt. Man wird von Nachbarn der Kindesmisshandlung verdächtigt, weil das Kind fürchterlich geschrien hat. Dabei war es nur empört, weil ich ihm den Mond nicht vom Himmel holen konnte.

Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen. Bernd Martens starb am 16. April 2025 im Kreise seiner Lieben.