Alzheimer-Logbuch: Die Gefühle und das Drama
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Unser Törn ins Vergessen (27)

Birgit ist die Tidengängerin im Land der Liebe

Wattenmeer

In Bernds Schwarz-Weiß-Fotos zeigt sich seine tiefe Verbundenheit mit dem Wattenmeer. Bild Privat

Birgit sucht nach Bernds Fotoapparat – und stösst dabei auf berührende Erinnerungen an Bernds Fotografie und seiner Liebe zu ihr.

28. Dezember 2022

Ich suchte in den nächsten Tagen immer mal wieder dezent nach dem Fotoapparat, den S. dir zu deinem 70. Geburtstag geschenkt hat. Ein (relativ!) einfach zu bedienender Apparat, der dir den Umstieg aufs digitale Fotografieren erleichtern sollte. Du konntest dir damals auch noch die Grundfunktionen aneignen, doch nach deinen eigenen Kriterien hast du damit nur noch geknipst und nicht mehr fotografiert.

Ich finde im Flurschrank vier von deinen alten Fotoapparaten Marke Canon samt diversen Objektiven und sonstigem Zubehör. Keiner funktioniert mehr, aber du kannst dich nicht von ihnen trennen. Mit ihnen hast du fotografiert, nicht geknipst. Stundenlang hast du auf das richtige Licht gelauert, auf den Moment, auf die Stimmung. Einige dieser Fotos wurden in der YACHT und in GEO abgedruckt. Die Fotos, die ich jedoch am meisten schätze, sind die Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Wattenmeer, die in dein Buch Land, das dem Meer gehört aufgenommen wurden. In ihnen finde ich deine tiefe Verbundenheit mit dieser einzigartigen Landschaft wieder. Und deine Liebe zu mir in der Widmung:

Für Birgit, Wattfrau im Meer des Mondes und Tidengängerin im Land unserer Liebe. Dein Bernd.

Mir kommen Tränen, wenn ich das lese. Ist das kitschig? Nicht das Weinen, das gestehe ich mir zu, aber  mein Schreiben darüber? Wahrscheinlich schon. Dabei verabscheue ich Tränendrückerei und Heulsusigkeit. Erst gestern haben mich die Schlusssequenzen in einem Spielfilm zum Thema Demenz geärgert, den ich in der ARD-Mediathek entdeckt hatte. In Stiller Abschied spielt Christiane Hörbiger die Unternehmerin Charlotte Brüggemann, der aufgrund ihrer Alzheimer-Erkrankung nicht nur ihre Firma langsam entgleitet, sondern ihr ganzes Leben.

Lange will sie nicht wahrhaben, was mit ihr geschieht und ihre Kinder ärgern sich nur über ihr seltsames Verhalten. Dieser Prozess wird glaubwürdig dargestellt, mal dramatisch, mal humorvoll, in meinen Augen durchaus gelungen. Nachdem endlich die ärztliche Diagnose Alzheimer für Klarheit bei allen Beteiligten gesorgt hat, hat Charlotte ihren großen Auftritt. An ihrem Geburtstag versammelt sie in einem Restaurant Familienmitglieder, Freunde, Verwandte und Firmenangehörige um sich und hält eine lange Rede, zieht ein Resümee ihres Lebens, dankt diesem und jenem und philosophiert schließlich über Alzheimer als doppeltem Tod, zuerst dem der Persönlichkeit und dann dem endgültigen. Und natürlich lauschen ihr alle mit tränenden Augen.

Mit ist selbst nicht ganz klar, warum mich diese Szene geärgert hat. War es die Unglaubwürdigkeit, dass Charlotte in dem Stadium der Demenz, in dem sie vorher gezeigt wurde, so eine zusammenhängende und hintergründige Rede halten kann? War es die allseitige rührselige Betroffenheit? Oder war es die Selbstverständlichkeit, mit der man sie anschließend in einem Heim unterbringt (ich sage bewusst nicht: sie ins Heim abschiebt), wie es in der Schussszene gezeigt wird?

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Natürlich: Ihr Sohn und ihre Tochter sind beide berufstätig und eine Pflege zuhause unter Mithilfe durch externe Hilfskräfte ist wahrscheinlich nicht oder nur schwer möglich. Also wird das realistisch dargestellt. Was um alles in der Welt stört mich dann? Vielleicht dieser Automatismus: Alzheimer, große Betroffenheit allerseits, Drama, Trauer, Tragik. Der Rest, der oft viele Jahre dauernde Rest, an dem sich das alltägliche Drama für Charlotte tatsächlich abspielen wird, die einsamen Stunden, der Verlust der Sprache, die vielen Fremden, die rätselhafte Bedrohung durch Diebe, ihre kleinen Kinder, die plötzlich verschwunden sind, die Beine, die nicht mehr gehen wollen, das Schlucken, das nicht mehr gelingt, die Toilette, die unerreichbar ist  – all das findet unerzählt, ungefilmt, nicht in Szene gesetzt in irgendeinem Heim statt, das nur von außen gezeigt wird. Fazit: Nicht nur nach dem Happy End wird im Film jewöhn­lich abje­blendt[2]. Auch dem tragischen Ende soll der triste Alltag nicht seinen dramaturgischen Glanz nehmen.


[2] Kurt Tucholsky

Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen. Bernd Martens starb am 16. April 2025 im Kreise seiner Lieben.