Die Tage schwimmen gesichtslos durch die leere Agenda. Ist heute Montag, Mittwoch oder Freitag? Das Altersturnen entfällt, das Meditationstreffen auch. Die Woche verliert jede Struktur. Selbst der Sonntag unterscheidet sich kaum mehr von anderen Tagen.
Gestern, auf meinem Spaziergang im Wald, hörte ich Kirchenglocken läuten, die zu einem Gottesdienst einluden, der nicht stattfindet. Also war gestern Sonntag und heute ist Montag.
Meine Tage sind ähnlich wie früher: ich lese, schreibe und spaziere mit meiner kleinen Hündin, esse einen Salat am Mittag und koche mir Abends Risotto. Zum Glück wohne ich am Waldrand in einem Genossenschaftshaus mit grossem Garten, ich kann und darf hinaus, auch wenn ich der Risikogruppe der Alten angehöre und derjenigen mit einer Vorerkrankung.
Der Wald ist der Wald, der er vor dem Virus war. Buschwindröschen in weissen Kissen, vereinzelte Schlüsselblumen, ab und zu ein Reh. Und viel mehr Menschen als noch vor wenigen Wochen, die durch den Wald rennen, fahren, spazieren.
Meine Tage sind ähnlich wie früher und doch so anders. Kein Treffen mit Freundinnen am Abend. Kein Kinobesuch. Kein Einkauf im Lebensmittelladen und auch nicht in der Buchhandlung. Und immer da: das Gefühl, dass das Gewohnte verschwindet.
Wie oft schon wollte ich aus allzu bekannten Gewohnheiten ausbrechen. Jetzt aber erkenne ich: Gewohnheiten sind auch Rettungsboote.
Wie wird das enden? In dieser Unsicherheit hilft es, mir einen sicheren Ort vorzustellen. Ich schliesse die Augen und unerwartet erscheint mir das Speisekämmerchen, von der Küche getrennt durch eine niedere Holztür, mit einem Riegel zu schliessen.
Hier sitze ich auf einem Hocker, lese mit der Taschenlampe, bewacht von den Gläsern mit sterilisierten Bohnen, dem Johannisbeergelée, den heiss eingefüllten Aprikosen, den Raviolibüchsen. Ich bin acht Jahre alt.
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Am nächsten Tag ein neues Bild: Ich sehe und spüre den Rücken meiner Lebensgefährtin, an den ich mich nachts kuschle. Ihre Wärme erfüllt mich mit Wärme, unsere Atemzüge gleichen sich an, mein Herz schlägt langsamer. Diese und weitere Bilder halte ich fest mit Worten, versammle sie im Heft der sicheren Orte.
Da meine Lebensgefährtin und ich nicht zusammen wohnen, ist das reale Kuscheln nur noch eingeschränkt möglich. Auch wir suchen nach gangbaren Wegen, wie so viele andere.
Es gibt Paare, die an Grenzzäunen stehen und sich nur durch Gitter sehen können.
Aufräumen sei ein guter Zeitvertreib, heisst es in verschiedenen Artikeln. Also sehe ich die Neujahrskarten durch, die noch auf einem Stapel liegen, freue mich an den Wünschen für gute Gesundheit, am Lächeln und den Goldmomenten, die mich durch das Jahr begleiten sollen. Die schriftlichen Umarmungen werden mich durch die fast kontaktlosen Wochen tragen.
Auch das Telefonieren hilft durch die Tage. Noch nie habe ich so viel telefoniert wie in dieser Zeit. Ich höre den Geschichten der Freundinnen zu.
Die Geschichte von der jungen Frau, die für ihre Nachbarinnen und Nachbarn einkauft und auf einer ihrer Touren einen sehr alten Mann antrifft, über achtzig, sagte sie, der eine schwere Einkaufstasche trägt. Was machen Sie denn hier, habe sie ihn gefragt, und ihm angeboten, die Einkäufe in Zukunft für ihn zu erledigen. Darüber habe er sich sehr gefreut.
Und die Geschichte der an Demenz erkrankten Frau, die ihren Freundinnen am Telefon die immer gleichen Fragen stellt: Woher kommt denn dieses Virus? Und nach einigem Nachdenken: Hämmir das welle? (Wollten wir das?)
Nein, wir haben das nicht gewollt. Nur ein paar Verschwörungstheoretiker wissen, dass das Virus freigelassen wurde, um die Welt ins Chaos zu stürzen.
Was gibt es sonst zu berichten von diesen seltsam ereignislosen Tagen und Wochen, in denen sich zugleich die Nachrichten überstürzen?
Mit meiner Schwester tausche ich telefonisch Kochrezepte aus und Informationen über Hauslieferdienste. Die Nachbarinnen sehe ich im Garten, wir stehen in einem weiten Kreis und fragen einander, wie es geht.
Ein Gruppe trifft sich regelmässig zum Qigong, in unserem Gemeinschaftsraum installiert ein Nachbar täglich sein Homeoffice. Regelmässig werde ich gefragt, was ich brauche. Äpfel, Brot und Joghurt werden mir ins Haus geliefert. Am Freitag – oder war es am Samstag? – musizierten drei Mitbewohner unter dem Kirschbaum für uns, die wir an den Fenstern standen und zuhörten.