Bis zum letzten Schritt - demenzjournal.com

Gehen

Bis zum letzten Schritt

Unser ganzes Leben sind wir auf den Beinen. unsplash

Schaue ich mich um, sehe sie viele hinkende alte Menschen. Offenbar sind die Beine nicht für das hohe Alter gemacht. Die Knie, sagen die einen, die Hüften, der Fuss die anderen. Ich halte mich an die Wanderstöcke. Aber einen Rollator? Nein, das nicht. Ich gehe und gehe weiter, bis zum letzten Gehen.

Gehen. Quer über den Platz. Gehen ohne zu denken, ohne zu spüren, wie das Bein sich hebt, das Knie sich biegt, der Fuss Halt sucht. Den Kopf erhoben, den Blick offen, schweifend, alles aufnehmend. Während des Gehens beobachten, wie eine Linie sich verändert im Näherkommen, wie ein Winkel weit wird oder eng, eine Wurzel betrachten, die das Trottoir hebt und über sie hinweggehen, ohne Schwierigkeiten.

Die Spatzen zählen, die sich um ein paar Brotbrocken streiten, sie zählen im Vorbeigehen, ohne anzuhalten, gehen, weiter gehen, quer über den Platz. Mir meinen Platz nehmen.

Demenz gestalten

«Das Design von Rollatoren schreit nach Gebrechlichkeit»

Eine Innenarchitektin über demenzsensible Wohnungen und Städte, die (fehlende) Ästhetik von Hilfsmitteln und ihre Erfahrungen mit ihren an Demenz erkrankten Grosseltern. weiterlesen

An anderen Tagen den Rändern entlang gehen, im Quadrat gehen, nicht ausgreifend über den Platz gehen, sondern in kleinen Schritten, da entlang gehen wo ein Zaun, eine Mauer ist, wo Bänke sind. Ein Zaun, um sich zu halten, eine Mauer, um sich zu stützen, Bänke, um sich zu setzen, den Rücken ausruhen, die Beine strecken.

Die Spatzen, die Linien, die Winkel nicht beachtet. Weitergehen. Jeden Schritt spüren, das Heben, das Senken des Beins, das Aufsetzen des Fusses. Den Blick nicht schweifen, sondern vor den Fuss fallen lassen, den Boden nach Steinen, Hindernissen, Stolperfallen absuchen.

An solchen Tagen die Wege bedenken, die Ecken zählen bis zum Supermarkt, zum Bahnhof. Hoffen, dass der Einkaufswagen, der Rollkoffer, ebenerdig ins Tram oder den Zug hineingezogen werden kann. An solchen Tagen, die häufiger werden.

Lieber gehe ich quer über den Platz, ausgreifend. Mach nicht so lange Schritte, den Satz meiner Mutter im Ohr, meine Schritte verlängernd, ihr zuleide. Was muss sie mir meine Schritte beschränken? Mädchen, die pfeifen und Hühnern, die krähen – den Hals umdrehen soll man ihnen, heisst die Redensart.

Das Pfeifen vergeht von selbst. Ich kann es nicht mehr, sagt mir eine Freundin verwundert, ich kann nicht mehr pfeifen. Dafür wird dir niemand mehr den Hals umdrehen, sage ich, sehe aber ihrem Gesicht an, dass sie lieber noch Pfeifen würde, trotz der Gefahr.

Ich kann nicht mehr schwimmen, erzählt eine andere Freundin, die Beine machen es nicht mehr richtig. Nicht mehr ausgreifend gehen, nicht mehr pfeifen, schwimmen, keinen Knopf mehr machen können mit der Schnur, die das Zeitungsbündel zusammenschnüren sollte.

Kein dies mehr, kein jenes mehr, alles geht weg. Geht. Ging. Gegangen. Wer nimmt uns alles? Wohin geht das alles?

Ich gehe. Oft mit den Wanderstöcken, die mir erlauben, quer über den Platz zu gehen, aufrecht, sicher. Wie wärs mit einem Rollator, der zugleich eine Sitzgelegenheit bietet?

Unmöglich, sagt der eine Freund und hält die Schmerzen aus beim Gehen, nein, sagt die andere Freundin, lieber bleibe ich Zuhause. Sicher keinen Rollator. Mit den Wanderstöcken sehe ich aktiv aus, so, wie wenn ich gerade von einer Wanderung käme, die ich gar nicht machen könnte. Aber ich sehe so aus. Gehend. In Bewegung. Sicher.

Eine einzige Freundin aber hat sich einen Rollator gekauft, der ihren Radius ausweitet, dahin geht sie, dorthin, kann auch zurückgehen, wenn sie etwas vergessen hat, was häufig passiert, und danach wieder vorwärts. So eine Erleichterung. Einfach gehen.

Fallbeispiel Max Sterren Weglaufen Unruhe Umherirren Wanderer

Fallbeispiel Max Sterren

Unruhe bei Demenz: Der Wanderer mit den schwachen Beinen

Max Sterren war trotz schwacher Beine bis in seine letzten Lebenstage ein Suchender ohne Ziel. Immer wieder manövrierte sich der demenziell erkrankte in … weiterlesen

So, wie man mit dem Hörgerät einfach hört. Besser hört, ohne die Lautstärke des Fernsehers für die Nachbarin einzustellen, beim Gehen das Tram, die Autos kommen hört. Und klein sind die Geräte heute, so klein, dass alte Finger sie schlecht bedienen können. Dafür sind sie unsichtbar. Und dennoch mit Scham behaftet, die versteckt wird hinter den Ohren, unter den Haaren.

Einzig die Brille geht. Keine Scham. Eine Brille ist modisch. Rot darf sie sein, eckig, rund, oval. Die Augen ein Markenzeichen, nicht aber das Hörgerät, der Rollator. Sie zeigen das Alter an, die Endlichkeit, das letzte Gehen. Sie ist gegangen, sie ist von uns gegangen.

Sie ist weggegangen und niemand weiss wohin. Auf dem Tisch liegen Brille und Hörgerät, im Korridor steht der Rollator oder der Rollstuhl. Gegangen. Weg. Fort. Läuft irgendwo anders über einen Platz, pfeifend, in langen Schritten, sicher auftretend. Läuft. Geht. Weg von uns.