Meine Mutter steht vor dem Spiegel und zieht die Lippen nach. Eigentlich, sagt sie fragend zu mir, eigentlich sehe ich gar nicht so schlecht aus. Meine Mutter ist 72 Jahre alt. Ich bin gut 40 und denke: Wen interessiert das? Wieso muss sie noch gut aussehen?
Heute bin ich so alt wie sie damals und stehe selbst vor dem Spiegel, den Augenbrauenstift in der Hand. Es tut mir weh, dass ich sie nicht verstand, nicht verstehen konnte mit meinem noch jugendlichen Blick. Jetzt erst verstehe ich: Sie wollte gesehen, wahrgenommen werden, als denkender und fühlender Mensch ernst genommen werden. Also genau das, was ich auch will.
Auch wenn ich alt bin, auch wenn ich mich mit kleineren und grösseren Beschwerden herumschlagen muss, auch wenn alles langsamer geht. Was zu Hause niemanden stört, draussen aber schon.
Die anderen, die Jungen, die Schnellen, müssen warten, bis die Alten in den Bus gestiegen sind, bis sie an der Kasse ihr Kleingeld oder ihre Kreditkarte hervor geklaubt und den Code eingegeben haben, warten, weil sie den Lauch nicht gewogen haben und damit die ganze Schlange aufhalten, weil sie, wenn denn endlich alles bezahlt ist, merken, dass sie die Butter vergessen haben, sie diese holen und sich an der Schlange vorbei drängeln, schliesslich gehöre die Butter noch zu ihrem Einkauf.
Manchmal gehöre ich zu den schussligen Alten, manchmal aber auch zu den jüngeren, die in der Reihe stehen und ungeduldig von einem Fuss auf den anderen treten.
Wie werden alte Menschen gesehen? Hier spielt kein Jöh-Effekt, der Entchen, Kätzchen und junge Hunde so anziehend macht.
Seit ich eine alte Frau bin, meine ich, weniger wahrgenommen zu werden. Viele junge Menschen sehen durch mich hindurch, mittelalte schauen eher unangenehm berührt.
Die Pandemie hat den Blick nochmals verändert. Plötzlich sollen alle Alten zu Hause bleiben, sie sollen geschützt werden, doch mir scheint, sie und damit ich, stehen unter Generalverdacht. Wir sind schuld, dass andere eingeschränkt werden. Schiefe Blicke, wenn ich aus dem Haus gehe, ich werde grossräumig umgangen.
Ich gehöre nicht mehr auf die Strasse, werde wahrgenommen als Quelle möglicher Ansteckung oder als eine, die anderen die Lebensfreude vermiest. Freundinnen erzählen mir von Anrempelungen, eine hat ihren Job als freiwillige Altersbegleiterin verloren, laut Zeitung wurden zwei alte Frauen gar angespuckt. Weil sie draussen sind? Weil sie noch am Leben sind?
Vielleicht sind wir Alten zu empfindlich. Schliesslich ist die Situation für niemanden leicht, nicht für die Eltern, die im Wohnzimmer eine Schule betreiben sollen, nicht für diejenigen, die ihre Arbeit zu Hause erledigen müssen.
Und doch. Immer noch möchte ich selbst bestimmt leben, und weiss doch, dass das in der heutigen Situation kaum jemand kann.
Die alten Menschen im Heim wurden regelrecht eingesperrt, und ich frage mich, wo Schutz aufhört und Entmündigung beginnt.
Nach acht Wochen zu Hause, wage ich mich wieder hinaus, und bin angenehm überrascht. Keine Hektik. Ich streife durch halbleere Geschäfte und kann so langsam sein, wie ich will, werde gesehen, auch gegrüsst von unbekannten Menschen. Eine neue Art der Sorgfalt, die mich freut.
Ist Gesehenwerden ein Menschenrecht? In Italien fühle ich mich zugehöriger, auch als alte Frau. Mit jungen und alten Menschen fällt das Reden in der Bar leicht, der Neffe einer Nachbarin bleibt stehen, um mit mir zu plaudern, die Frau, die ich nur vom Vorübergehen kenne, klopft bei mir an, um mir zu erzählen, dass sie heirate. Das habe sie mir persönlich sagen wollen.