«Als würde ich die Titanic an Seilen durch die Wüste ziehen» - demenzjournal.com
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Manifest

«Als würde ich die Titanic an Seilen durch die Wüste ziehen»

Claudia Günzel: «Manchmal wünschte ich mir, mit der Krankheit Demenz wäre viel Geld zu verdienen, dann hätten diese Menschen sicher eine breite Lobby.» Bild Stephanie Sonderegger

Claudia Günzel sass als Teamleiterin bei der Spitex an der Schnittstelle zwischen Fachpersonal und Bürokratie. Ständig musste sie sich mit Dingen befassen, die viel Zeit kosteten. Zeit, die ihre Mitarbeitenden lieber sinnvoll mit den ihnen zur Pflege anvertrauten Menschen verbracht hätten. Ein Manifest, ziemlich zeitlos.

Manchmal fühle ich mich, als würde ich die Titanic an Seilen durch die Wüste ziehen.

Wie wenn ich als Teamleiterin bei der Spitex nicht schon genug damit zu tun hätte, meine Mitarbeitenden zu führen …

Ich muss ihnen eintrichtern, dass sie die Pflegeberichte ausführlich schreiben müssen – und dass sie manchmal genauso viel Zeit dafür benötigen, wie für die Pflege an sich.

Ich muss zusehen, wie eine Pflegefachfrau mehr Zeit am Computer verbringt als sich beim Kunden aufzuhalten. Und ich frage mich: Wofür genau wurde sie eigentlich ausgebildet?

Ich muss über unseren Spitex Fond Geld für Einkäufe bei einer an Frühdemenz erkrankten Frau besorgen, weil sie seit Monaten auf den Rentenbescheid wartet und sich kaum Essen leisten kann.

Wir gleisen Pflegesituationen kostenlos auf, damit ein Mensch mit Demenz nicht per Gerichtsbeschluss in eine Psychiatrie eingewiesen wird, weil er alles ablehnt und uneinsichtig ist, und es Geduld und Zeit braucht, aber keiner dafür zahlen will. Obwohl der Aufenthalt in der Psychiatrie garantiert viel teurer wäre.

Ich ärgere mich masslos, weil wir Reihen von Beweisketten auftürmen müssen, damit man uns überhaupt glaubt, dass wir pflegen.

Ich muss mit Spezialistinnen der Krankenkasse um jede Pflegeminute feilschen.

Mein Gesuch um Erhöhung der Pflegeleistungen bei einem fast 100-jährigen Mann mit mittelschwerer Demenz wurde abgelehnt, da die Verlangsamung keine Begründung ist. Ich weiss, es ist nicht richtig – aber ich wünschte mir, der Vater der Spezialistin wäre an seiner Stelle.

Die Spezialistin einer anderen Krankenkasse schreibt einer an Demenz erkrankten Frau, dass es ihr kaum mehr möglich sein dürfte, sich selbständig in der gewohnten Umgebung zurechtzufinden – die Kasse übernimmt in der Folge nur noch einen Teil der Kosten.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Für den Rest muss die Frau allein aufkommen, wenn sie weiterhin zu Hause leben möchte. Im selben Brief teilt ihr die Spezialistin mit, dass sie gegen diesen Entscheid gerichtlich vorgehen könne. Ich weiss, es ist nicht richtig – aber ich wünschte mir, es wäre die Mutter dieser Spezialistin, die dieses Schreiben bekommt.

Eine alte Dame mit mittelschwerer Demenz findet, dass sie alles noch allein kann. In Wirklichkeit aber liegt sie fast nur noch im Bett und wird von der Spitex gepflegt und betreut. Zwei Jahre lang haben wir Anträge auf Hilflosenentschädigung gestellt. Sie sind immer abgelehnt worden. 

Ich habe gestritten, bis endlich ein Gutachter persönlich vorbei gekommen ist und sich einen Überblick bei der Dame zuhause verschafft hat. Und siehe da: Sie bekam eine mittlere Hilflosenentschädigung zugesprochen.

Und ich wünschte mir, die Sachbearbeiterin der Rentenversicherung hätte nur ein einziges Mal von ihrem Schreibtisch aufgeschaut und ihr Herz eingeschaltet. 

Unterwegs mit der Demenz-Spitex

Die Betreuung von Menschen mit Demenz im häuslichen Umfeld durch die Spitex alzheimer.ch/Marcus May

In solchen Momenten möchte ich einfach nur noch die Seile meiner Titanic loslassen, weil alles so aussichtslos erscheint und ich im Sand zu versinken drohe.

Dann aber frage ich mich, wer kümmert sich um die Belange dieser Menschen, wenn ich nicht mehr weiter mache? Wer kann diesen Kampfgeist aufbringen? Die erkrankten Menschen selbst? Die pflegenden Angehörigen, denen das Wasser oft eh schon bis zum Hals steht?

Wer überwacht eigentlich die Beschlüsse der Behörden und Krankenkassen? Wer sorgt dafür, dass solche Entscheide nicht willkürlich gefällt werden?

Manchmal wünschte ich mir, mit der Krankheit Demenz wäre viel Geld zu verdienen, dann hätten diese Menschen sicher eine breite Lobby.

Doch Demenz kostet nur. Es gibt an so vielen Fronten Unklarheiten, Lücken und ungelöste Probleme.

Aber ich habe auch Hoffnung

Immer dann, wenn ich an meine über 40 Mitarbeitenden denke, welche tagtäglich von Demenz Betroffene zu Hause mit so viel Herz, Geduld und Kreativität durch den Tag führen und gleichzeitig die pflegenden Angehörigen wohlwollend unterstützen.

Immer dann, wenn ich an meine Pflegefachleute denke, die das Schreiben der Pflegeberichte immer weiter perfektionieren, damit sie auch vor den Spezialisten der Krankenkassen Bestand haben.

Immer dann, wenn unterstützende Projekte in gemeinsamer Zusammenarbeit entstehen. Trotz aller Widrigkeiten.

Gestärkt von diesen Gedanken nehme ich die Seile meiner Titanic wieder auf und ziehe den Kahn weiter durch den Sand … – denn auch ich werde einmal alt sein …

Und ich wünschte mir, dass all die Forderungen, die ich in dieses Manifest habe fliessen lassen, dannzumal selbstverständlich sein werden. Und ich wünschte mir, dass es dann nicht mehr nötig sein wird, dass jemand für mich kämpfen muss …


Grundlage dieses Beitrags ist ein Referat, das Claudia Günzel am 3. Demenz Meet in Zürich hielt.