Einmal hat sie für ihre Mama ein Bild gemalt, der untere Teil war gelb. Die Mutter freute sich und sagte: «Oh, das ist ja ein toller Strand!». Sarah brach daraufhin in Tränen aus. Sie wollte doch eine grüne Blumenwiese für ihre Mama malen, aber hatte die Farben nicht mehr richtig erkannt. Die Mutter schlug dann vor, das Gelb mit Blau zu übermalen, so wurde es doch noch eine Wiese.
Bald kamen andere Auffälligkeiten hinzu. Sarah wirkte oft abwesend, schaute ihr Gegenüber nicht mehr richtig an, das Kurzzeitgedächtnis ließ nach. Die Eltern überlegten, ob vielleicht im Kopf ihrer Tochter etwas nicht stimmte, auf den Sehnerv drückte, und ließen ein MRT machen. Das Ergebnis war unauffällig. Gleichzeitig machten die Ärzte eine Blutuntersuchung. Dieses Mal war das Ergebnis auffällig: NCL.
Nach der Diagnose wurde Sarah schnell komplett blind. Die Familie musste umziehen. Das barrierefreie Haus, in dem sie jetzt wohnt, hilft – auch weil sich Sarah ein bisschen Autonomie bewahren kann. In ihrem Zimmer hört sie CDs, schaut – beziehungsweise hört – sich Fernseh-Sendungen an, am liebsten Das perfekte Dinner, wo Menschen für andere kochen und dabei bewertet werden. Beim Fernsehen braucht sie keine Hilfe. «Wir unterstützen sie beim Zähneputzen, mitunter auf der Toilette», sagt die Mutter. «Sie möchte noch so viel wie möglich allein hinkriegen. Sie hat auch ihr Schamgefühl.»
Sarah ist jetzt 15 Jahre alt, in der Pubertät – eine Zeit, in der sich Jugendliche normalerweise von den Eltern abgrenzen. Sarah ist das nur in Maßen möglich, sie verlernt zu leben, während andere in ihrem Alter ins Leben starten. Zunehmend vergisst sie die Namen ihrer Schulfreundinnen.
Mit anderen Mädchen losziehen, tanzen gehen, ins Kino, für Jungs schwärmen oder ablästern – Sarah kennt das nur vom Hörensagen, von ihren Brüdern.
«Als Eltern erklären wir ihr, was Pubertät bedeutet, aber sie vergisst meist, was wir ihr gesagt haben. Es ist sehr schwierig, einem blinden, dementen Kind die Welt zu zeigen.»
Tagsüber geht Sarah in eine Blindenschule, es gefällt ihr dort. Sie ist in einer Werkstatt-Klasse, in der viel gebastelt wird. Der Raum befindet sich im Erdgeschoss, Sarah will nicht mehr in die Klassenräume im ersten Stock gehen, sie hat Angst, aus dem Fenster zu fallen.
Sie würde gern mit den anderen die Blindenschrift üben, aber für Sarah war es zu spät, die Schrift zu lernen – ihr Kurzzeitgedächtnis konnte es nicht mehr leisten. Manchmal nimmt sie zu Hause ein Buch zur Hand und tut so, als würde sie ihrem jüngeren Bruder Nick vorlesen – bis er sie darauf hinweist, dass sie das Buch verkehrt herum hält. «Sarah sagt immer wieder, dass sie davon träumt, ihre Bücher lesen zu können», meint die Mutter. Es fällt schwer, die Tochter in dem Moment nicht trösten zu können.
Die 40-Jährige ist zu Hause, ihr Mann, kaum älter als sie, ist bei der Stadt angestellt. Früher war Yvonne Marquard Rechtsanwaltsfachangestellte, der Job machte ihr Spaß. Nach der Elternzeit mit Nick wollte sie eigentlich wieder arbeiten, aber Sarah brauchte viel Zuwendung.
Vergessene Jugend
Ein erschütterndes Zeitdokument, gefilmt im Auftrag der Familie.
derfilmemacher/youtube
Dann kam Corona, und Sarah musste ganz zu Hause bleiben. Die Mutter gab ihre Arbeit auf, das Familieneinkommen verringerte sich deutlich. «Glücklicherweise sind meine Kinder bescheiden», meint sie. Durch Sarahs Krankheit sei sie gelassener geworden, rege sich weniger über Kleinigkeiten auf. «Unsere Familie hätte psychologische Hilfe in Anspruch nehmen können, aber bis jetzt hatten wir keine Zeit, uns darum zu kümmern, es geht auch so. Zum Glück habe ich gute Nerven und bin sehr belastbar.»
In diesem Moment klingelt es an der Tür, Sarah kommt nach Hause, ein Fahrdienst der Schule bringt sie und holt sie morgens ab. Amy, die Mischlingshündin, springt auf und begrüßt Sarah fröhlich. Seit der Hund da ist, lässt sich Sarah schneller beruhigen, wenn sie wütend oder traurig ist. Morgens lässt sie sich von Amy wecken, für beide ein schönes Ritual.
Yvonne Marquard legt den Arm um ihre Tochter und begleitet sie ins Wohnzimmer. Sarah freut sich, zu Hause zu sein, aber will nicht viel reden. Sie holt ihre Malsachen aus dem Ranzen, ein Buch zum Ausmalen mit lauter Katzen drin. Die Mutter dirigiert sanft ihre Finger, dorthin, wo der Katzenkopf ist, die Augen, die Schnurrhaare, reicht ihr die passenden Farbstifte. Man merkt, die beiden sind ein eingespieltes Team. Sarah spricht leise, hat Probleme mit dem Artikulieren, es klingt ein bisschen verwaschen.