«Ein wunderbares Mittel, um Liebe auszudrücken» - demenzjournal.com
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Berührungen

«Ein wunderbares Mittel, um Liebe auszudrücken»

Die Störung des Tastsinns wiegt umso schwerer, wenn das visuelle System im Alter eingeschränkt ist. Bild Véronique Hoegger

Martin Grunwald leitet das Haptik-Labor in Leipzig, wo er seit Jahren über den Tastsinn forscht. Gerade für Menschen mit Demenz ist der Körperkontakt überaus wichtig, auch in der Pflege.

alzheimer.ch: Herr Grunwald, bei Menschen mit Demenz werden Tastsinnesreize häufig fehlerhaft verarbeitet. Welche Auswirkungen kann das im Alltag haben? 

Martin Grunwald: Wenn der Tastsinn stark gestört ist, erkennen die Betroffenen oft die physischen Eigenschaften von Gegenständen nicht mehr. Dann kann es passieren, dass ein Taschentuch mit einem Nahrungsmittel oder eine Blumenvase mit einem Trinkbecher verwechselt wird.

Oder die tastenden Finger erkennen zwar die Schokolade in ihrer typischen Form, aber nicht, dass sie verpackt ist. Dann landet sie unter Umständen samt Aluminiumfolie im Mund. Die Störung des Tastsinns wiegt umso schwerer, wenn das visuelle System im Alter eingeschränkt ist. Im Nahbereich oder auch bei Dämmerung und Dunkelheit verlassen wir uns dann umso mehr auf die Leistungen des Tastsystems.

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Wie kommt es dazu, dass der Tastsinn bei Menschen mit Demenz nicht mehr richtig funktioniert?

Bei unseren Experimenten haben wir festgestellt, dass bereits bei sehr frühem Krankheitsbeginn komplexe Tastsinnesleistungen beeinträchtigt sind. Die Betroffenen können unbekannte Objekte und Strukturen, die sie nur mit ihren Händen ertasten sollten, nicht richtig erkennen.

Dafür können gestörte Gedächtnisprozesse verantwortlich sein, aber auch sogenannte Integrationsstörungen. Bei letzteren gelingt es dem neuronalen Netzwerk unseres Gehirns nicht, die ertasteten Einzelinformationen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Es ist auch gut möglich, dass beide Prozesse gleichzeitig beeinträchtigt sind.

Die fehlerhafte Verarbeitung von Tastsinnesreizen ist auch eine Möglichkeit der Früherkennung, ob jemand an Demenz erkrankt ist.

Weltweit versuchen Wissenschaftler, Testverfahren dafür zu entwickeln. In unserem Labor haben wir vor einigen Jahren intensiv an einem Testsystem gearbeitet, um festzustellen, inwieweit sich die Tastsinnesleistung bei gesunden älteren Menschen und bei Menschen mit beginnender Demenz unterscheidet.

Von den gesunden älteren Probanden wurden die Aufgaben sehr gut bewältigt, während die Patienten mit leichten kognitiven Störungen erhebliche Probleme hatten. Aber dazu braucht es noch weitere Untersuchungen.

Wenn die Tastsinnesleistung im Alter und speziell bei Demenz nachlässt: Bedeutet das auch, dass Berührungen die Patienten weniger erreichen?

Martin Grunwald.Bild PD

Ganz sicher nicht. Berührungen werden auch von Patienten mit stark ausgeprägter Demenz wahrscheinlich ein Leben lang wahrgenommen. Die Betroffenen haben, wie alle anderen Menschen auch, ein natürliches Kontaktbedürfnis. In der Regel geniessen sie es, wenn sie berührt werden. Davon profitiert auch das Immunsystem.

Alte Menschen erfahren häufig wenig Berührung, umso mehr, wenn der Partner gestorben ist und der Kontakt zu den Kindern und Enkeln distanziert ist. Kommen Berührungen in Pflegeheimen zu kurz? 

Das kann schon passieren. Andererseits setzt sich in der Pflege nach und nach die Einsicht durch, dass der achtsame, wertschätzende Körperkontakt zu alten und dementen Patienten ein wichtiges Kommunikationsmittel ist.

Wie gestaltet sich der Körperkontakt ganz konkret?

Das können Umarmungen oder streichende Berührungen des Arms und der Hände sein. Entscheidend ist letztlich, was der Patient an Bedürfnissen und Grenzen signalisiert und was dem pflegenden Personal zeitlich und emotional möglich ist.

Gibt es Berührungen, die von den Betroffenen als besonders angenehm empfunden werden?

Einige Patienten geniessen die professionelle Nackenmassage, anderen genügt es schon, wenn jemand ihre Hände hält und über den Unterarm streicht. Wieder andere freuen sich über eine Kopfmassage oder eine kräftige Umarmung.

Man muss das in Ruhe herausfinden, so wie man erst nach einiger Zeit weiss, welches Essen den Patienten besonders oder gar nicht schmeckt. 

Können Berührungen wichtiger sein als Worte? Bestimmt.

Da sich Menschen mit Demenz oft sprachlich nicht mehr verständigen können, bleibt ihnen nur noch dieser Weg. Meine Mutter ist 77 und stark dement, sie kann sich sprachlich nicht mehr vernünftig artikulieren. Es ist auch nicht klar, ob sie mich noch erkennt.

Besonders positiv reagiert sie, wenn ich mit ihr Arm in Arm über die Flure des Pflegeheims schlendere. Wenn ich mit ihr auf dem Sofa sitze und den Arm um sie lege, schläft sie in der Regel sofort ein oder wird innerlich ganz ruhig und entspannt.

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Das heisst, die Berührungen sind der wichtigste Kommunikationskanal zwischen Ihnen?

Ja. Für uns Angehörige ist es ein wunderbares und einfaches Mittel, um auszudrücken, dass wir sie lieben und uns freuen, dass sie da ist. An den Reaktionen meiner Mutter sehe ich wiederum, dass der Körperkontakt auch für sie eine Möglichkeit ist, ihre positiven Gefühle uns gegenüber auszudrücken. Dieser Kanal wird bei ihr bis zum Schluss funktionieren, auch wenn sie nicht mehr laufen kann und ihr Gehirn sehr weit zerstört ist.

Können auch Pflegekräfte eine persönliche Beziehung zu den Patienten aufbauen?

Warum nicht? Ich finde es schön, wenn die Pflegekräfte meine Mutter zum Dienstbeginn umarmen und auf diese Weise deutlich signalisieren, das sie jetzt im Dienst sind und sich um all ihre Belange kümmern. Es ist mir und allen Familienangehörigen wichtig, dass sie positive Impulse empfängt – nicht nur dann, wenn wir sie besuchen.    

Manche Menschen mit Demenz leiden unter Berührungsangst, vor allem, wenn sie die Pflegekräfte nicht kennen. Es kann passieren, dass sie mit Schreien oder Schlägen reagieren.

Das ist eine völlig normale Reaktion. Grundsätzlich ist der Mensch darauf bedacht, dass seine Körpergrenzen nicht von fremden Menschen überschritten werden. Genau diese Grenzüberschreitung muss im Pflegefall aber professionell überschritten werden. Manche Menschen, die verwirrt oder dement sind, verlieren in solchen Situationen die Kontrolle.  

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Wie sollen sich die Pflegekräfte dann verhalten?

Sie sollten möglichst geduldig sein und versuchen, Vertrauen aufzubauen. Es muss ihnen klar sein, dass Menschen mit Demenz viele Handlungen, die an ihrem Körper vorgenommen werden, überhaupt nicht adäquat verstehen können. Die Abwehrhaltung ist also kein persönlicher Angriff gegen die Pflegekräfte, sondern eine Reaktion auf Ereignisse, die sie zum Teil tief verängstigen.

Können Pflegeroboter eines Tages die Berührungen übernehmen?

Ich halte umarmende Roboter für Science Fiction, zumindest was den derzeitigen Entwicklungsstand der Robotik angeht. Aktuell genügt es meiner Meinung nach, wenn Roboter bei bestimmten Hilfsleistungen in Pflegebereichen eingesetzt werden, etwa beim Essens- oder Wäschetransport. Das kann die Arbeit der Pflegekräfte erheblich entlasten.

Und dadurch haben sie dann wieder mehr Zeit, um individuell auf die Patienten einzugehen, auch durch Körperkontakte.

Genau. Wir sollten die Wirkung von Berührungen bloss nicht unterschätzen. Eine kurze Umarmung kann positive Emotionen auslösen, die Stunden oder sogar Tage andauern.


Zur Person

Dr. habil. Martin Grunwald wurde 1966 in Leipzig geboren. 1996 gründete er das Haptik-Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig. Mit seinem Team entwickelte er eine neue Therapie für Essstörungen, bei der magersüchtige Patienten durch massgeschneiderte Neoprenanzüge wieder ein realistisches Körpergefühl bekommen sollten.

Neben seinen medizinischen Forschungen berät Grunwald Industrieunternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte. 2017 erschien sein Buch «Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können» (Droemer Verlag), für das er den Wissenschaftsbuchpreis 2018 in der Kategorie Medizin/Biologie bekam.