«Blau!», sagt meine Mutter auf dem Beifahrersitz und strahlt vor sich hin. Ich bin irritiert, kurz, spule die letzte Stunde zurück und finde die Frage zu dieser Antwort. Wir haben vor Verlassen ihrer Wohnung ihren Schal gesucht und ich habe sie gefragt, welche Farbe er denn hat. Sie wusste es nicht, «frag mich was Leichteres», hat sie gesagt.
Die Demenz meiner Mutter kam nicht wie ein Schnupfen. Sie hat sich in ihr Leben eingeschlichen. Ein ungebetener Untermieter ihres Gehirns. Hat über lange Zeit verkleidet angeklopft. Mit den üblichen Kleinigkeiten, wie dem Vergessen von Namen und Geburtstagen, dem Verpassen von Terminen und Abfahrtszeiten, dem Suchen nach Dingen, wo man nach wenigen Minuten nicht mehr weiss, wonach man denn eigentlich gesucht hat.
Lernen fürs Leben
Meine Mutter hat sich ihr Leben lang weitergebildet, war kulturell interessiert, hat erst Kinderkrankenschwester, dann Kindergärtnerin gelernt, später, als ihr der Stress mit den Kids zu viel wurde, auf Seniorenbetreuung umgesattelt, aber noch eine Ausbildung als Logopädin gemacht, um leseschwachen Schulkindern in Einzelbetreuung zu helfen.
Sie hat in der Senioreneinrichtung, in der sie gearbeitet hat, das erste Internetcafé eingerichtet, Englisch-Konversationskurse initiiert, selbst noch in einem Crashkurs etwas Spanisch gelernt, damit sie einen Freund auf eine sechswöchige Reisereportagentour durch Kuba begleiten kann.
Meine Mutter ist sogar mit 40 Senioren über Silvester nach Mallorca geflogen, als Betreuerin und Reisebegleitung. Sie hat täglich Zeitung gelesen, viele Bücher verschlungen, Vernissagen angeschaut, Theaterstücke, und mich, die ich mit meiner Familie 1000 Kilometer weit weg lebe, regelmässig besucht, per Zug.
Topfit
Körperlich war sie ebenfalls immer aktiv, sie hat meine Aerobic-Kurse, die ich mal gegeben habe, frequentiert, ist viel Rad gefahren, als sie sich im eigenen Auto begann, unsicher zu fühlen und es schliesslich weggab, noch mehr.
Sie ist leidenschaftlich gerne spazieren gegangen, an manchen Tagen bis zu 15 Kilometer oder weiter. Sie fuhr dazu mit dem Bus oder Zug an die Ostsee, hat dort Mittag gegessen oder Kaffee getrunken und sich dann auf den vier, fünf Stunden langen Fussweg nach Hause gemacht.
Ferien bei Oma
Die ersten Sommerferien mit meinen Kindern haben wir zum grossen Teil bei ihr verbracht, in ihrem Haus in einem kleinen Dorf. Die Kinder haben dort Radfahren gelernt, durften ihr im Garten helfen, das Gartenhäuschen zusammen mit ihr in schwedisch roter Farbe angemalt, gebacken, viel gebastelt und auf dem nahen Pferdehof ihre ersten Begegnungen mit Ponys gehabt.
Später, als wir regelmässig ein Ferienhaus in Dänemark buchten, ist sie manche Jahre mitgekommen, um die für sie unbekannte Nordsee zu entdecken und zu geniessen und die Kinder am Strand zu beobachten, am Abend Spiele zu spielen bis in die tiefe Nacht hinein.
Pik oder Karo
Bei einem dieser Spiele fiel uns zum ersten Mal auf, dass die Vergesslichkeitsattacken meiner Mutter über das ein bisschen tüddelige hinaus gingen. Wir spielten ein Kartenspiel, das wir schon Hundertmal gespielt hatten, aber sie konnte auf einmal nicht mehr mithalten, sich die Farben nicht mehr merken.
Später, bei unserem Lieblingsspiel Stadt-Land-Fluss fielen ihr die Städte, Länder und Flüsse nicht mehr ein, die sie schon wegen ihrer Kreuzworträtsel-Marathons eigentlich aus dem effeff kannte. Aber eben, man muss ja auch nicht immer alles wissen, es kann einem ja mal etwas entfallen.
Where are we?
Der ganz grosse Schub wurde mir bewusst, als ich beschlossen hatte, mit meiner Mutter einmal im Jahr eine Reise zu machen, nur wir zwei, wir hatten uns das immer vorgenommen, zu ihrem 75. Geburtstag fingen wir damit an.
Die erste grosse Reise, seit wir beide Jahr für Jahr alleine nach Schweden gefahren waren, als ich noch Kind war, sie hatte mich alleine grossgezogen, mein Bruder und mein Vater sind früh gestorben.
Diese erste grosse Reise seit Kindertagen ging nach London. Wir bezogen ein Traumhotel in Chelsea, ich hatte für jeden von uns ein Zimmer gebucht, weil wir eigentlich unterschiedliche Rhythmen und Abläufe haben und weil es auch etwas von ungewohntem Luxus hat, sein eigenes Zimmer in einem Hotel beziehen zu können. Wir wollten uns schliesslich etwas Schönes gönnen, ich fand, wir hatten es uns verdient.
Vier Tage, London in strahlendem Sonnenschein, Mitte Oktober, es war warm und perfekt fürs Sightseeing, spazieren gehen, Viertel erkunden, die Seele baumeln lassen. Meine Mutter hat an keinem einzigen Tag im Hotel gewusst, in welchem Zimmer sie wohnt, geschweige denn, den Weg dorthin gefunden. Sie hat schon mittags nicht gewusst, wo wir am Vormittag waren.
Sie hat dem Moment entgegengefiebert, an dem wir wieder zurückreisen.
Am Tag der Abreise wollte sie morgens sofort nach dem Frühstück an den Flughafen, obwohl unser Flug erst am Nachmittag ging. Aus Angst, das Flugzeug zu verpassen.
Heathrow ist schön, aber nicht so schön, dass man dort sechs Stunden am Gate sitzt und nichts tut. Weil sie sich aber merklich entspannte, als ich versprach, wir würden uns auf den Weg zum Flughafen machen, habe ich es akzeptiert.
Verwirrt
Zuhause war alles wie immer, sie fand sich zurecht, erledigte ihr Tagesgeschäft, lebte ihre Routine weiter, keine nennenswerten Vorkommnisse. Den Sommer drauf nahmen wir sie wieder mit nach Dänemark. Ein grosser Fehler. Sie konnte keinen Schritt mehr alleine machen, hat jede Nacht ihren Koffer gepackt, weil sie jeweils am nächsten Tag abreisen wollte.
Sie sass morgens auf einem Stuhl in der Küche des Ferienhauses und fragte, was ich denn mit den ganzen Möbeln machen würde, wenn ich wieder abreise. Und warum es keinen Kühlschrank geben würde. Sie sass genau davor.
Abends, wenn wir wie gewohnt Spiele spielen wollten, fand sie Ausreden, warum sie keine Lust hat. Wenn sie dann doch mitspielte, wurde sie nach kürzester Zeit unwirsch, sagte, «so ein Quatsch», stand auf vom Tisch und starrte aus dem Fenster. Manchmal hat sie geweint. Ansprechen durfte ich sie nicht. «Lass mich», hat sie gesagt.
Nicht kampflos aufgeben
Zurück in ihrer Wohnung bat ich sie, zu einem Neurologen zu gehen, um sich abklären zu lassen. Sie ging, hat sich aber das Ergebnis nie abgeholt und mir hat man es nicht mitgeteilt. Ich hätte keine Befugnis. Ihr Leben bestand aus immer gleich ablaufenden Tagen, und ich hatte das Gefühl, solange es diese Routine gibt, ist alles gut.
Wir haben noch weitere, Reisen unternommen, ich wollte so sehr, dass sie nach all den Jahren der Entbehrungen und des Sparens ein wenig Luxus und Fürsorge geniesst. Wir sind ein Jahr zu einer Freundin von ihr nach Schweden gefahren, haben dort bei der Freundin privat gewohnt, in gemeinsamen Erinnerungen geschwelgt.
Wir waren in Salzburg, im wunderbaren Hotel Sacher, wo der routinierte, aussergewöhnlich höfliche Portier sofort meine Mutter durchschaute und sie jeweils mit «Ich mach das für Sie, gnädige Frau» und «Lassen’s mich Sie begleiten, gnädige Frau» die Tatsache überspielte, dass meine Mutter zu keinem Zeitpunkt wusste, auf welcher Etage in dem Haus sich ihr Zimmer befand geschweige denn, welche Nummer es hatte.
Wir sind mit dem Schiff nach Schweden und dem Zug nach Österreich gefahren, ich hatte gehofft, dass Reisen zu Wasser und zu Land weniger verwirrend seien als Fliegen. Fehlanzeige. Ich musste eingestehen, dass meine Mutter sich ausserhalb ihrer gewohnten Umgebung nicht mehr wohl und sicher fühlt und keinen einzigen der neuen Eindrücke aufnahm und abspeicherte.
Reduzieren als Massnahme
Also haben wir das nach einem letzten Ausflug ins Tessin, wo sie nicht mal mehr die Lichtschalter in ihrem Hotelzimmer alleine bedienen konnte, sein gelassen. Ich begann, die Frequenz meiner Besuche im Norden zu erhöhen, meine Mutter telefonierte inzwischen fast täglich mit mir, manchmal rief sie fünf mal pro Tag an um zu fragen, was sie jetzt machen soll.
Ich war mir nicht immer sicher, ob sie regelmässig ass.
Sie wohnte inzwischen in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, die ich als Studentin bewohnt und gekauft hatte, ihr Haus auf dem Land war ihr zu gross geworden, der Garten zu viel Arbeit. Fair enough. Meine Wohnung liegt fussläufig zur Stadt, das Auto wurde so oder so obsolet, alles viel einfacher zu erreichen.
Im Haus gibt es mehrere Wohnungen, ich konnte die Nachbarswohnung dazu erwerben mit dem Plan, sollte meine Mutter pflegebedürftig werden, dort eine Pflegeperson hineinzusetzen und die beiden Wohnungen miteinander zu verbinden. Dazu kam es nicht mehr.
Wenn die Vergangenheit schwindet
Nach ihrem 80. Geburtstag, den wir mit einer riesen Party mit Freunden, Verwandten und ehemaligen Klassenkameradinnen und -kameraden feierten, ging es rapide in Richtung Vergessen.
Wir unternahmen grad nach dem Geburtstag noch eine Reise, mit dem Auto, auf die nur drei Stunden entfernte Insel Rügen, ein Jugendtraum meiner Mutter, sie hat dort Verwandte, ihr Vater – mein Grossvater – stammt von der Ostseeinsel und sie hatte sogar mal mit dem Gedanken gespielt, dorthin zu ziehen.