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Vergessen

Abenteuer Mutter

Helga Krüger spaziert gerne der Ostsee-Küste entlang – manchmal auch 15 Kilometer weit. Bild Dörte Welti

Die Demenz hat sich wie ein ungebetener Untermieter in Helga Krügers Gehirn geschlichen. Ihre Tochter Dörte Welti, die als Freelancerin für alzheimer.ch arbeitet, beschreibt den langen und oft schmerzhaften Weg des zunehmenden Vergessens.

«Blau!», sagt meine Mutter auf dem Beifahrersitz und strahlt vor sich hin. Ich bin irritiert, kurz, spule die letzte Stunde zurück und finde die Frage zu dieser Antwort. Wir haben vor Verlassen ihrer Wohnung ihren Schal gesucht und ich habe sie gefragt, welche Farbe er denn hat. Sie wusste es nicht, «frag mich was Leichteres», hat sie gesagt.

Die Demenz meiner Mutter kam nicht wie ein Schnupfen. Sie hat sich in ihr Leben eingeschlichen. Ein ungebetener Untermieter ihres Gehirns. Hat über lange Zeit verkleidet angeklopft. Mit den üblichen Kleinigkeiten, wie dem Vergessen von Namen und Geburtstagen, dem Verpassen von Terminen und Abfahrtszeiten, dem Suchen nach Dingen, wo man nach wenigen Minuten nicht mehr weiss, wonach man denn eigentlich gesucht hat.

Lernen fürs Leben

Meine Mutter hat sich ihr Leben lang weitergebildet, war kulturell interessiert, hat erst Kinderkrankenschwester, dann Kindergärtnerin gelernt, später, als ihr der Stress mit den Kids zu viel wurde, auf Seniorenbetreuung umgesattelt, aber noch eine Ausbildung als Logopädin gemacht, um leseschwachen Schulkindern in Einzelbetreuung zu helfen.

Die Autorin Dörte Welti mit ihrer Mutter Helga Krüger.Bild Gabriele Niemand

Sie hat in der Senioreneinrichtung, in der sie gearbeitet hat, das erste Internetcafé eingerichtet, Englisch-Konversationskurse initiiert, selbst noch in einem Crashkurs etwas Spanisch gelernt, damit sie einen Freund auf eine sechswöchige Reisereportagentour durch Kuba begleiten kann.

Meine Mutter ist sogar mit 40 Senioren über Silvester nach Mallorca geflogen, als Betreuerin und Reisebegleitung. Sie hat täglich Zeitung gelesen, viele Bücher verschlungen, Vernissagen angeschaut, Theaterstücke, und mich, die ich mit meiner Familie 1000 Kilometer weit weg lebe, regelmässig besucht, per Zug.

Topfit

Körperlich war sie ebenfalls immer aktiv, sie hat meine Aerobic-Kurse, die ich mal gegeben habe, frequentiert, ist viel Rad gefahren, als sie sich im eigenen Auto begann, unsicher zu fühlen und es schliesslich weggab, noch mehr.

Sie ist leidenschaftlich gerne spazieren gegangen, an manchen Tagen bis zu 15 Kilometer oder weiter. Sie fuhr dazu mit dem Bus oder Zug an die Ostsee, hat dort Mittag gegessen oder Kaffee getrunken und sich dann auf den vier, fünf Stunden langen Fussweg nach Hause gemacht.

Ferien bei Oma

Die ersten Sommerferien mit meinen Kindern haben wir zum grossen Teil bei ihr verbracht, in ihrem Haus in einem kleinen Dorf. Die Kinder haben dort Radfahren gelernt, durften ihr im Garten helfen, das Gartenhäuschen zusammen mit ihr in schwedisch roter Farbe angemalt, gebacken, viel gebastelt und auf dem nahen Pferdehof ihre ersten Begegnungen mit Ponys gehabt.

Später, als wir regelmässig ein Ferienhaus in Dänemark buchten, ist sie manche Jahre mitgekommen, um die für sie unbekannte Nordsee zu entdecken und zu geniessen und die Kinder am Strand zu beobachten, am Abend Spiele zu spielen bis in die tiefe Nacht hinein.

Pik oder Karo

Bei einem dieser Spiele fiel uns zum ersten Mal auf, dass die Vergesslichkeitsattacken meiner Mutter über das ein bisschen tüddelige hinaus gingen. Wir spielten ein Kartenspiel, das wir schon Hundertmal gespielt hatten, aber sie konnte auf einmal nicht mehr mithalten, sich die Farben nicht mehr merken.

Später, bei unserem Lieblingsspiel Stadt-Land-Fluss fielen ihr die Städte, Länder und Flüsse nicht mehr ein, die sie schon wegen ihrer Kreuzworträtsel-Marathons eigentlich aus dem effeff kannte. Aber eben, man muss ja auch nicht immer alles wissen, es kann einem ja mal etwas entfallen.

Where are we?

Der ganz grosse Schub wurde mir bewusst, als ich beschlossen hatte, mit meiner Mutter einmal im Jahr eine Reise zu machen, nur wir zwei, wir hatten uns das immer vorgenommen, zu ihrem 75. Geburtstag fingen wir damit an.

Die erste grosse Reise, seit wir beide Jahr für Jahr alleine nach Schweden gefahren waren, als ich noch Kind war, sie hatte mich alleine grossgezogen, mein Bruder und mein Vater sind früh gestorben.

Diese erste grosse Reise seit Kindertagen ging nach London. Wir bezogen ein Traumhotel in Chelsea, ich hatte für jeden von uns ein Zimmer gebucht, weil wir eigentlich unterschiedliche Rhythmen und Abläufe haben und weil es auch etwas von ungewohntem Luxus hat, sein eigenes Zimmer in einem Hotel beziehen zu können. Wir wollten uns schliesslich etwas Schönes gönnen, ich fand, wir hatten es uns verdient.

Helga Krüger auf einer Städtereise in London im Jahr 2011. Hier zeigten sich zum ersten Mal massive Erinnerungslücken.Bild Dörte Welti

Vier Tage, London in strahlendem Sonnenschein, Mitte Oktober, es war warm und perfekt fürs Sightseeing, spazieren gehen, Viertel erkunden, die Seele baumeln lassen. Meine Mutter hat an keinem einzigen Tag im Hotel gewusst, in welchem Zimmer sie wohnt, geschweige denn, den Weg dorthin gefunden. Sie hat schon mittags nicht gewusst, wo wir am Vormittag waren.

Sie hat dem Moment entgegengefiebert, an dem wir wieder zurückreisen.

Am Tag der Abreise wollte sie morgens sofort nach dem Frühstück an den Flughafen, obwohl unser Flug erst am Nachmittag ging. Aus Angst, das Flugzeug zu verpassen.

Heathrow ist schön, aber nicht so schön, dass man dort sechs Stunden am Gate sitzt und nichts tut. Weil sie sich aber merklich entspannte, als ich versprach, wir würden uns auf den Weg zum Flughafen machen, habe ich es akzeptiert.

Verwirrt

Zuhause war alles wie immer, sie fand sich zurecht, erledigte ihr Tagesgeschäft, lebte ihre Routine weiter, keine nennenswerten Vorkommnisse. Den Sommer drauf nahmen wir sie wieder mit nach Dänemark. Ein grosser Fehler. Sie konnte keinen Schritt mehr alleine machen, hat jede Nacht ihren Koffer gepackt, weil sie jeweils am nächsten Tag abreisen wollte.

Sie sass morgens auf einem Stuhl in der Küche des Ferienhauses und fragte, was ich denn mit den ganzen Möbeln machen würde, wenn ich wieder abreise. Und warum es keinen Kühlschrank geben würde. Sie sass genau davor.

Abends, wenn wir wie gewohnt Spiele spielen wollten, fand sie Ausreden, warum sie keine Lust hat. Wenn sie dann doch mitspielte, wurde sie nach kürzester Zeit unwirsch, sagte, «so ein Quatsch», stand auf vom Tisch und starrte aus dem Fenster. Manchmal hat sie geweint. Ansprechen durfte ich sie nicht. «Lass mich», hat sie gesagt.

Nicht kampflos aufgeben

Zurück in ihrer Wohnung bat ich sie, zu einem Neurologen zu gehen, um sich abklären zu lassen. Sie ging, hat sich aber das Ergebnis nie abgeholt und mir hat man es nicht mitgeteilt. Ich hätte keine Befugnis. Ihr Leben bestand aus immer gleich ablaufenden Tagen, und ich hatte das Gefühl, solange es diese Routine gibt, ist alles gut.

Wir haben noch weitere, Reisen unternommen, ich wollte so sehr, dass sie nach all den Jahren der Entbehrungen und des Sparens ein wenig Luxus und Fürsorge geniesst. Wir sind ein Jahr zu einer Freundin von ihr nach Schweden gefahren, haben dort bei der Freundin privat gewohnt, in gemeinsamen Erinnerungen geschwelgt.

Wir waren in Salzburg, im wunderbaren Hotel Sacher, wo der routinierte, aussergewöhnlich höfliche Portier sofort meine Mutter durchschaute und sie jeweils mit «Ich mach das für Sie, gnädige Frau» und «Lassen’s mich Sie begleiten, gnädige Frau» die Tatsache überspielte, dass meine Mutter zu keinem Zeitpunkt wusste, auf welcher Etage in dem Haus sich ihr Zimmer befand geschweige denn, welche Nummer es hatte.

Bei einem Schlossbesuch in Salzburg (2012) wirkte Helga Krüger nach kurzer Zeit überfordert.Bild Dörte Welti

Wir sind mit dem Schiff nach Schweden und dem Zug nach Österreich gefahren, ich hatte gehofft, dass Reisen zu Wasser und zu Land weniger verwirrend seien als Fliegen. Fehlanzeige. Ich musste eingestehen, dass meine Mutter sich ausserhalb ihrer gewohnten Umgebung nicht mehr wohl und sicher fühlt und keinen einzigen der neuen Eindrücke aufnahm und abspeicherte.

Reduzieren als Massnahme

Also haben wir das nach einem letzten Ausflug ins Tessin, wo sie nicht mal mehr die Lichtschalter in ihrem Hotelzimmer alleine bedienen konnte, sein gelassen. Ich begann, die Frequenz meiner Besuche im Norden zu erhöhen, meine Mutter telefonierte inzwischen fast täglich mit mir, manchmal rief sie fünf mal pro Tag an um zu fragen, was sie jetzt machen soll.

Ich war mir nicht immer sicher, ob sie regelmässig ass.

Sie wohnte inzwischen in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, die ich als Studentin bewohnt und gekauft hatte, ihr Haus auf dem Land war ihr zu gross geworden, der Garten zu viel Arbeit. Fair enough. Meine Wohnung liegt fussläufig zur Stadt, das Auto wurde so oder so obsolet, alles viel einfacher zu erreichen.

Im Haus gibt es mehrere Wohnungen, ich konnte die Nachbarswohnung dazu erwerben mit dem Plan, sollte meine Mutter pflegebedürftig werden, dort eine Pflegeperson hineinzusetzen und die beiden Wohnungen miteinander zu verbinden. Dazu kam es nicht mehr.

Wenn die Vergangenheit schwindet

Nach ihrem 80. Geburtstag, den wir mit einer riesen Party mit Freunden, Verwandten und ehemaligen Klassenkameradinnen und -kameraden feierten, ging es rapide in Richtung Vergessen.

Wir unternahmen grad nach dem Geburtstag noch eine Reise, mit dem Auto, auf die nur drei Stunden entfernte Insel Rügen, ein Jugendtraum meiner Mutter, sie hat dort Verwandte, ihr Vater – mein Grossvater – stammt von der Ostseeinsel und sie hatte sogar mal mit dem Gedanken gespielt, dorthin zu ziehen.

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Sie hatte immer wieder gesagt, sie möchte so gerne noch einmal nach Rügen, nach Poseritz, und ich wollte sie mit der Reise zu ihrem 80. Geburtstag überraschen. Die wenigen Verwandten, die dort noch leben, hatten keinen Platz, uns unterzubringen, also hatte ich in einem kleinen Hotel zwei Zimmer gebucht.

Meine Mutter ist die ganze Nacht durchs Hotel gegeistert, hat mich gesucht, gepackt, ausgepackt, das Bad nicht gefunden, an allen Türen gerüttelt.

Einsicht

Warum ich das immer und immer wieder versucht habe? Eine Reise mit meiner Mutter? Weil ich dachte, dass es nur an den äusseren Umständen liegen kann, dass eine unbekannte Sprache (obwohl sie früher sehr gut Englisch sprach) und das Gefühl, weit weg von ihrer gewohnten Umgebung zu sein, die Unsicherheitsfaktoren sind und dass bekanntes Terrain – sie hat Rügen zig Mal besucht, früher – sie sicherer macht. Aber es waren nicht die äusseren Umstände.

Das Regal des Lebens

Ich las über Demenz, den Verlauf. Irgendwo im Internet fand ich ein schönes Bild: Man stelle sich den Verlauf der Demenz wie ein Bücherregal vor. Ganz unten liegen die Bücher, die man als Kind gelesen hat, die Erfahrungen, die Basis, die Herkunft. In der Mitte stapelt sich das Leben, Familie, Beruf, Erlebnisse. Und ganz oben liegen die einzelnen jüngsten Happenings.

Die Demenz rüttelt an dem Regal. Anfangs fallen nur die Bücher runter, wo drin steht, was man heute Mittag gegessen hat, wer gestern zu Besuch war, wie die TV-Show vom Vorabend hiess. Jedes neue Buch fällt in immer kürzerer Zeit wieder runter. Bald fallen auch die letzten Berufsjahre weg, die Reisen, die immer wiederkehrenden Jahreszeiten und Feiertage.

Auf einer Schiffsreise nach Schweden (2013) bliebt Helga Krügers Bett unbenutzt, weil sie die ganze Nacht auf ihrem Sofa sass und auf ihre Tochter wartete.Bild Dörte Welti

Nur das Fundament, das bleibt noch ganz lange. Meine Mutter kann bis heute das kirchliche Gesangbuch praktisch auswendig, jedes Gedicht, das sie in der Mittelschule gelernt hat und jedes Lied, das sie mit ihrer Mutter gesungen hat. Aber wenn ihr Telefon klingelt, weiss sie nicht, was sie machen soll, erkennt nicht den Apparat und seine Funktion.

Suche nach Lösungen

Ich kündigte also der Mieterin der Nebenwohnung im Hause, in dem meine Mutter wohnte, um eine Pflegekraft zu engagieren und sie dort hoffentlich einzuquartieren. Meine Mutter schaffte es derweil, sich gelegentlich aus- und einzuschliessen, also in ihrer eigenen Wohnung, rief mich verzweifelt weinend an, ich solle kommen und sie rauslassen, 1000 Kilometer weit weg.

$Meine einzige schnelle Lösung war, den Nachbar zu alarmieren, den Schlüsseldienst zu organisieren und dann ins Auto zu springen und loszufahren. Den Weg so kurzfristig habe ich nicht nur einmal gemacht.

In diesen Momenten hatte ich das schlechteste Gewissen der Welt.

Sie zu mir zu holen, war aber keine Option. In der Schweiz ist die Betreuung von Menschen mit Demenz in einer Einrichtung sehr teuer. Ganz davon abgesehen, dass sie nie in die Schweiz wollte, wir hatten das Thema besprochen, als sie ihr Haus verkaufte.

Und dass ich zurück in den Norden ziehe, war auch ausgeschlossen. Als Alleinerziehende mit drei Kindern und als selbständige Journalistin hing meine Existenz massgeblich von dem Standort ab, an dem ich mir über die Jahre ein funktionierendes Netzwerk aufgebaut hatte. Es war auch keine Frage, die Kinder zu verpflanzen.

Die Zeit drängt

Nachdem dann die Nachbarn langsam von Vorfällen genervt waren, weil meine Mutter bei ihnen klopfte und mich suchte, sie mehrfach den Schlüssel verloren hatte und irgendwann mal die Feuerwehr im Haus war, weil der Toaster brannte und die Feuermelder auslöste, war klar, es geht so nicht mehr.

Ich hatte mit dem Sozialdienst gesprochen, verschiedene Betreuerinnen ausprobiert, die zu meiner Mutter in die Wohnung kamen, weil die Mieterin der Nebenwohnung eine lange Kündigungsfrist hatte und ich die Zeit, bis ich dort eine Pflegeperson einquartieren konnte, überbrücken wollte.

Aber meine Mutter kam mit keiner Betreuerin richtig klar.

Lediglich eine nette und bemühte Nachbarin schaffte es ein wenig, ihr zur Hand zu gehen das ein oder andere Mal, verlor aber auch die Geduld, als meine Mutter begann, ständig an ihrer Tür zu klingeln.

Ich hatte längst begonnen, einen geeigneten Platz in einem Pflegeheim zu suchen, war auch fündig geworden, zum Glück in der Einrichtung, in der meine Mutter selbst früher als Seniorenbetreuerin gearbeitet hatte.

Das Haus selbst war allerdings marode und die Einrichtung plante einen Neubau, nur für Menschen mit Demenz. Um dort einziehen zu können, musste die Demenz allerdings auch attestiert sein, nur weil ich behaupte, meine Mutter ist dement, muss es noch lange nicht so sein, findet der Gesetzgeber. Ist auch irgendwie logisch, sonst könnte ja jeder, der es will, seine Eltern «entsorgen».

Helga Krüger 2014 in einer selbstgestrickten Jacke am Luganersee. Mittlerweile kann sie keine Knöpfe mehr annähen.Bild Dörte Welti

Die Arzttermine platzten jeweils, weil meine Mutter nicht hinging oder sich die Diagnose nicht abholte Und weil man in Deutschland wochenlang auf Termine beim Doktor warten muss, konnte ich auch nicht in Lübeck sitzen und mit ihr zusammen gehen, das erledigten die Damen, die versuchsweise zu ihr kamen.

Abklärung bringt Klarheit

Die Demenz-Abklärung, um die für den Einzug in ein Heim für demente Menschen geforderte Pflegestufe 2 attestiert zu bekommen, wird vom medizinischen Dienst gemacht, der zur abzuklärenden Person nach Hause geht. Auch da war es beim ersten Termin nicht möglich, den mit mir zu koordinieren.

Meine Mutter schaffte den «Test», erzählte mir ganz glücklich, dass sie alles gewusst habe, sie sei nicht krank, der Herr oder die Dame, die gekommen waren, gingen mit einem Bericht von einer etwas tüddeligen aber keineswegs dementen Frau aus der Wohnung.

Die zweite Abklärung konnte ich erst sechs Monate nach der ersten beantragen, so die Regeln. Eine heftige Zeit, in der sich die Vorfälle häuften, mein schlechtes Gewissen wuchs, die Nachbarn ungnädiger wurden und ich hin- und hergerissen zwischen Kindern, Job und Verantwortung wahre Terminkoordinations-Marathons absolvierte.

Beim zweiten Termin war ich dann dabei und dem Herrn vom medizinischen Dienst war nach kurzer Zeit sonnenklar, dass meine Mutter mit einer beginnenden Demenz zu kämpfen hatte.

Status Quo

Wir gehen am Strand spazieren, es ist noch winterlich, aber nach der gewöhnungsbedürftigen Luft im Pflegeheim ist die frische Luft immer eine Wohltat. Die Wege, die meine Mutter zurücklegen kann, sind wesentlich kürzer geworden. Ausser, sie schafft es, aus ihrem neuen Domizil auszureissen. 

Dann geht sie, wie sie es früher oft gemacht hat, in einen zirka sieben Kilometer entfernten Vorort, um dort zu Mittag zu essen. Nachts, abends, tagsüber. Wie oft sie es schafft, ist nicht ganz klar, aber wenn sie nicht zurückfindet, wird eine Suchaktion ausgelöst, das Pflegeheim ist verpflichtet, die Polizei nach ein paar Sunden zu alarmieren.

On the run

Die Gesetzeshüter kennen meine Mutter inzwischen. Das erste Mal habe ich sie selbst suchen lassen (müssen). Wir waren am Strand, tagsüber, in einem Ort, wo wir immer Kaffee trinken, ich hatte in einem Geschäft zu tun, ein Interview für eine Zeitung. Jobs in die Nähe meiner Mutter zu verlagern, gab mir etwas mehr Spielraum für Besuche bei ihr.

Meine Mutter wollte nicht mit hinein in die Boutique, versprach stattdessen,  draussen auf und ab zu gehen. Irgendwann war sie weg. Sass nicht im vereinbarten Treffpunkt, dem Café gegenüber (okay, es war ein Versuch wert), war nicht in die Nachbargeschäfte gegangen. Sie hatte sich auf den Weg zu Fuss nach Hause gemacht, schlicht vergessen, dass ich da war.

Und wo vor allem. Da sie mehrere Wege vom Strand in die Stadt kannte, die ich alle abfuhr, sie aber nicht entdecken konnte, informierte ich die Polizei für den Fall, dass sie aufgegriffen wird. Sie aber fand den 17 Kilometer langen Weg zurück in ihre Strasse. Fünf Stunden später.

Vernetzte Mutter

Ihre unbeaufsichtigten Ausflüge aus dem Heim, in dem sie jetzt lebt, gehen zwar alle gut aus, aber die Heimleitung hat mich gewarnt, dass sie das nicht handeln können und wenn das nicht aufhört, müsse man meine Mutter in die geschlossene Abteilung des Hauses verlegen. 

Das ist absolut keine Option, also habe ich mich schlau gemacht und ein Ortungssystem angeschafft, mit dem ich egal, wo ich mich befinde auf der Welt, auf dem Computer meine Mutter orten kann per PIN, der in ihrer Tasche steckt.

Das Pflegepersonal musste sich bereit erklären, den PIN jeweils spätestens jede zweite Nacht aufzuladen, damit er immer zu Orten ist. Vom Pflegeheim aus hat fast jeder Bewohner einen Tracker, der ein Signal auslöst, wenn die Bewohner die Türschwelle nach draussen überschreiten. Normalerweise schaut dann jemand vom Pflegepersonal, ob sich die Pflegeperson weiter vom Haus entfernt.

90 Prozent aber der nicht im geschlossenen Trakt lebenden Gäste sind per Rollator oder Rollstuhl unterwegs und kommen alleine nicht besonders weit. Sie gehen nur mal an die frische Luft, höchstens für eine kleine Runde im hauseigenen Garten.

Die, die noch ein wenig fitter sind, spazieren auch schon mal weiter weg, in den nahe gelegenen Supermarkt oder ein Café, sind aber mental fitter und melden sich – in den meisten Fällen – ab. Meine Mutter ist die einzige, die noch einen grösseren Radius hat beziehungsweise haben könnte.

Luxus Service

Rein theoretisch könnte das Pflegepersonal den PIN selbst orten am Computer, aber es gibt zu wenig Beschäftigte und sie sind nicht verpflichtet, so viel persönlichen Service zu leisten. Das ist und bleibt ein Privatluxusvergnügen.

Es ist noch nicht oft vorgekommen, dass mich die Pflegeleitung anruft und sagt «Ihre Mutter ist weg.» Was unter anderem daran liegen könnte, dass schon mal bei so einer Aktion herauskommt, dass sie vergessen haben (könnten), den PIN aufzuladen oder zu montieren.

Ich kann das sehen, wenn ich die Ortung starte, ich sehe den Ladestatus oder der PIN zeigt an, dass meine Mutter im Haus sein müsste. Der PIN ist es dann, aber sie unter Umständen nicht. Da aber die Polizei inzwischen wie gesagt weiss, wer sie ist und wo sie wohnt, ist es nicht wirklich ein Problem. Noch ist sie immer wieder aufgetaucht.

Keine Frage des Alters

Wir gehen also am Strand, es ist frisch, ich animiere sie, ein paar Atemübungen zu machen, Gelenke zu mobilisieren, wie früher, als sie noch in meine Aerobic-Klasse kam. Anschliessend steigen wir eine kleine Treppe hoch, meine Mutter, die ein Jahr zuvor noch 17 Kilometer mit einem kleinen Lächeln absolviert hat, ist ausser Atem. «Ich bin zu alt dafür», keucht sie und lässt sich auf eine Bank fallen.

«Wie alt denn?», frage ich und schaue sie von der Seite an. Meine Mutter überlegt. Wir haben das schon oft durchexerziert. «Weiss ich doch nicht», sagt sie trotzig nach ein paar Minuten. Ich lass nicht locker.

Ich habe die irrige Annahme, man könne verlorene Dinge wieder antrainieren.

«Wie alt könntest Du den sein?», fordere ich sie heraus. «Was weiss ich denn!», schnauft meine Mutter. Ich ermutige sie, eine Zahl zu nennen. Irgendeine. «Wofür?», fragt sie? Die Frage nach dem Alter ist schon wieder gelöscht. «Wie alt Du bist. Sag eine Zahl, irgendeine». Sie schaut immer noch fragend. «20, 30, 40 – irgendeine Zahl», insistiere ich, «eine Zahl, die angibt, wie alt Du bist».

«Dann 20», sagt meine Mutter. «Das kann nicht sein«, sage ich, «Ich bin älter als 20, dann musst Du es auch sein». Meine Mutter versteht den Zusammenhang nicht. «Dann 40», sagt sie bestimmt und ich lasse es gut sein. «Ich bin 57», sage ich. «Ganz schön alt», meint sie und steht auf, wir gehen darauf einen Kaffee trinken.

Alte Kameraden

Eine grosse Freude kann ich meiner Mutter machen, indem ich mit ihr in ihr Lieblingsrestaurant zum Mittagessen gehe, das sie viele Jahre ziemlich regelmässig frequentiert hat.

Es ist ein zirka sieben Kilometer entferntes italienisches Restaurant auf einem kleinen Marktplatz, meist ist sie zu Fuss hin und wieder zurück gelaufen. Die Inhaberfamilie und Angestellten kennen sie, wir haben inzwischen auch kleinere Feste dorthin verlegt und gehen wenigstens einmal, wenn ich bei ihr bin, dort essen.

Die Leute sind sehr nett, begrüssen meine Mutter mit Handschlag und ihrem Vornamen, eine typisch italienische Familie. «Ciao, cara», sagt der junge Kellner, Sohn des Inhabers, zu meiner Mutter. Sie strahlt ihn an: «Nicht wahr? Wir kennen uns schon lange, wir sind zusammen zur Schule gegangen».

Er nickt, selbstverständlich. Ich bin irgendwie dankbar für so eine Normalität, es scheint niemanden hier zu geben, der sie komisch anguckt oder hinter vorgehaltener Hand über sie tuschelt. Die Signora ist ein gern gesehener Gast, basta.

Gartenarbeit

Heute haben wir wieder einen Ausflug an den Strand gemacht, es ist sommerlich, obwohl es kalendarisch noch Frühling ist. Wir haben uns erst in den Sand gelegt und dann einen Strandkorb gemietet.

Es braucht so wenig, um sie glücklich zu machen.

Eine Fahrt ans Meer, ein Nickerchen im Strandkorb, eine Portion Fisch mit Kartoffelsalat und auf dem Rückweg haben wir angehalten und ein Körbchen frische Erdbeeren vom Erdbeerhof gekauft, die bereits gepflückt waren.

Als wir dann wieder im Auto sassen, hat sie ihre Fingernägel angeschaut und hat gesagt, kein Wunder, dass die so dreckig seien, sie habe ja den ganzen Tag im Garten gearbeitet, aber wenigstens habe sie schon schöne Erdbeeren geerntet. Ich habe sie sehr gelobt dafür. 

Das Leben ist ein Puzzle

Manchmal schweigen wir minutenlang, wenn wir im Auto unterwegs sind. Meine Mutter fängt von sich aus keine Konversation mehr an, sie ist einfach zufrieden, neben mir zu sitzen. Ihre Mitteilsamkeit beschränkt sich auf Bemerkungen zum Wetter oder wenn sie besonders beleibte Menschen sieht.

Meine Mutter ist eine unerbittliche Kritikerin, wenn jemand in ihren Augen zu fett ist. Sie sagt es. Laut und deutlich. Aber das war übrigens schon immer so, ich erinnere mich an viele peinliche Fremdschämmomente….

Sie fragt nach meiner Familie. Das weiss sie noch, dass ich Kinder habe. Drei Stück. Wobei manchmal meine Kinder auch ihre Kinder sein können. Und bei einer der selten gewordenen Besuche meiner Tochter alleine bei der Grossmutter war sie sich nicht sicher, ob ihre älteste Enkelin auch ich sein könnte. Wenn wir reden, ist es eine Puzzlearbeit, ich schlage Satzbausteine vor, weil ihr die Worte für Dinge abhanden kommen.

Einst las Helga Krüger gerne Hermann Hesse. Bei einem Besuch im Hesse-Museum (2014) wusste sie nichts mehr davon.Bild Dörte Welti.

Ich habe aufgehört zu versuchen, sie zu den Worten hinzuführen, es ist eine schulmeisterliche Anmassung, die keinen Sinn macht. Lieber den Redefluss am Laufen halten, wenn er passiert, und versuchen, aus den Teilen schlau zu werden. Wenn die Konversation ganz stoppt, wäre es, wie wenn ein weiteres Band zerschnitten werden würde.

Meine Mutter ist auf einem Level, wo sie noch sehr viel bemerkt von dem, was mit ihr passiert und sich ab und zu schämt, wenn ihr etwas nicht einfällt. Dann wird sie umgehend depressiv. Das gilt es, unter allen Umständen zu verhindern. Also kommentiere ich Sätze wie «Die haben die Schirme immer noch nicht weggelesen!» mit «Stimmt! Die Baustelle ist hier jetzt schon wirklich sehr lange!».

Was wirklich wichtig ist

Was am Ende bleibt, ist wahrscheinlich die Liebe. Das Gefühl. Egal, ob man noch weiss, wo man ist, wie man heisst, wie alt man ist, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter, Weihnachten oder Ostern. Oder wer genau die Person ist, die sich um einen kümmert. Das spielt alles keine Rolle.

Meine Mutter hat sich langsam eingelebt, sie konnte in ihr Zimmer ein paar Möbel aus der Wohnung mitnehmen, die Vorhänge haben per Zufall die selbe Farbe, die Wand das selbe Hellgelb, wie sie ihre Wohnung hatte streichen lassen.

Der Lieblingssessel ist mitgekommen, wichtige Bücher, Fotos, ein paar Briefe, die Bedeutung haben, die trägt sie bei sich. Vom langjährigen Lebensphasenbegleiter, der nie seine Frau für sie verlassen hat. Oder von den Enkeln.

Viele Zettel liegen herum, sie sind mit Fragmenten beschrieben.

Schon früh hatte meine Mutter begonnen, Dinge, die ihr wichtig waren, Tag für Tag aufzuschreiben, wie ein Mantra des Erinnerns. Ich habe beim Ausräumen ihrer Wohnung ein Arsenal an Papierresten mit den Geburtsdaten ihrer Geschwister, Todestagen, Namen, Verwandtschaftsverhältnissen etc. gefunden.

Mit der Zeit wurden die Zettel immer fragmentöser, die Informationen immer spärlicher. Heute lag ein Zettel auf ihrem Tisch, zirka drei mal ein Zentimeter gross, abgeschnitten vom Rand einer Zeitung. 1962 steht drauf in ihrer Handschrift. Das ist mein Geburtsjahr.