Du bist ein sehr musischer Mensch, du spielst Cello, du nähst kunstvolle Gegenstände und du schreibst. Hat dir das geholfen in dieser schweren Zeit, als Paul noch zuhause lebte?
Wenn mir alles zu viel wurde, flüchtete ich mich in das Musikzimmer und spielte Etüden herunter. Am Anfang ging das noch, später, als ich ständig damit rechnen musste, dass Paul davonläuft, hatte ich auch dafür keine Zeit mehr. Und geschrieben habe ich dann, wenn ich auf dem Zahnfleisch lief, also eigentlich fast täglich.
Wir fanden es sehr mutig von dir, dass du dich dazu entschlossen hast, dein Tagebuch öffentlich zu machen. Würdest du es heute wieder tun?
Ja, ganz sicher, die Reaktionen der Leserinnen bestätigen das. Ich hoffe, dass ich damit dazu anrege, viel früher Hilfe zu suchen, als ich es damals tat. Im Nachhinein muss ich mir eingestehen:
Ich habe viel zu spät erkannt, wie sehr man als Angehöriger in Anspruch genommen wird, wie man von dieser Krankheit geradezu fertig gemacht wird.
Wenn man Zeuge sein muss, wie ein geliebter Mensch in diesen reissenden Strom sinkt und die Hand, die verzweifelt aus den Fluten ragt, unerreichbar bleibt. Diese Erkenntnis war jedes Mal ein ganz schlimmer Moment.
Gerade in den aktuellen Folgen deines Tagebuchs wird man Zeuge eines solch schlimmen Moments: Paul kommt in ein Heim, wo er schlecht behandelt wird und wo du mit deinen Anliegen und Reklamationen auf taube Ohren triffst.
Ich habe immer daran geglaubt, dass ich es schaffen würde, meinen Mann nie in ein Heim geben zu müssen. In meiner Hoffnung liess ich mich von den wenigen Fällen, wo das gelang, dazu verleiten – wenn die das schaffen, schaffe ich es auch. Ich wollte das dem Paul schenken.
Es schliesslich nicht zu schaffen, war für mich ein Versagen, ich fühlte mich unfähig. Dabei hatte ich es einfach unterschätzt. Heute weiss ich, dass es praktisch unmöglich ist, bis am Schluss zuhause zu bleiben, mit einigen wenigen Ausnahmen, die meiner Meinung nach viel zu sehr hochgelobt werden.
Heute weiss ich auch: Diese Krankheit lässt sich als Angehöriger nicht allein bewältigen.
Anders als ich es damals tat, rate ich dazu, sich frühzeitig um einen Heimplatz zu bemühen, den man dann genauer unter die Lupe nehmen sollte. Ich unterliess das damals, weil das
wie das Eingeständnis einer Niederlage schien.
Also musste umständehalber alles sehr schnell gehen. Hast du das erstbeste Heim gewählt?
Meine Freundin und ich wählten besagtes Heim aus, weil wir nach einem Besuch dort beide ein gutes Bauchgefühl hatten. Das ist ja das Absurde daran: Herausgekommen ist das Gegenteil. Ich nehme diese Schuld auf mich. Denn hätte ich die Richtlinien der Memory-Klinik befolgt und mich frühzeitig darum gekümmert, wäre das alles nicht passiert …
Paul verstarb 2015, das ist jetzt vier Jahre her. Gerade bist du aus eurem Haus in eine Wohnung ins Nachbardorf gezogen. Du konntest endlich loslassen. Es hat lange gedauert, doch du hast dich erholt, du lebst wieder.
Das ist ein Geschenk, eine Gnade. Ich habe einige Beispiele erlebt, wo die Frau nicht mehr auf die Beine kam. Nach der Beerdigung war mir bewusst geworden, dass nicht nur Paul erlöst wurde. Ich musste mir eingestehen, dass das auch für mich galt.
Als ich das kommunizierte, wurde ich teils schräg angeschaut. Doch wenn man ehrlich mit sich selbst ist, darf man so etwas sagen.
Denn ich hatte ja alles erduldet, alles Menschenmögliche für ihn getan. Jetzt war wieder ich an der Reihe.
Ich gab meinem Alltag wieder eine Struktur, spielte meine Musik und ging viel Wandern. Ich pflegte wieder alte Freundschaften und ich hatte unseren Garten, der jetzt meiner war und mir viel Arbeit bescherte.
Ich wagte mich wieder unter die Leute, sehnte mich vor allem nach Kameradschaft. Eines Tages traf ich Ernst und es wurde sogar eine Beziehung daraus. Die Lebensfreude kehrte zurück.