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Interview

«Man darf Menschen mit Demenz nicht allein lassen»

Der 65-jährige Andreas Kruse lehrt an der Universität Heidelberg. Der Altersforscher und Psychologe ist seit 2003 Vorsitzender der Altersberichtskommission der Bundesregierung und seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates. Andreas Kruse ist verheiratet und hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Bild PD

Ressourcen statt Einschränkungen, Stärken statt Verletzlichkeiten: Andreas Kruse will das Alter neu denken. alzheimer.ch sprach mit dem Altersforscher über Kreativität, Würde und Stimulation.

alzheimer.ch: Herr Kruse, «Alter neu denken» ist eine Maxime von Ihnen. Was genau meinen Sie damit?

Andreas Kruse: Wir sollten nicht nur die Einschränkungen und Verletzlichkeiten eines Menschen sehen, sondern auch seine Stärken und Ressourcen. Viele verfügen über erhebliche seelisch-geistige Kompetenzen und schöpferische Kräfte, selbst wenn sie sehr krank sind. Diese Kompetenzen können sich zum Beispiel in Gesprächen ausdrücken, in denen sie ihren Enkeln aus ihrer Lebensgeschichte erzählen.

Wichtig ist für alte Menschen außerdem, Anregungen zu suchen, aus Routinen auszubrechen, etwa andere Länder zu bereisen oder eine Fremdsprache zu erlernen, sofern sie das noch können. Neulernen kann stimulierend sein und einem vermitteln, dass man kompetent und beweglich im Kopf ist. «Nicht fertig werden»: So hat das die Schriftstellerin Rose Ausländer einmal mit einem Gedicht zum Ausdruck gebracht.

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Prävention

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Sie plädieren dafür, dass ältere Menschen «Sorge-Beziehungen» eingehen. Wie kann das konkret aussehen?

Das heißt, dass ältere Menschen nicht nur andere haben, die sich um sie kümmern, auch sie selbst sorgen sich um ihre Mitmenschen, sind für sie da. Das kann die Nachbarin sein, das Enkelkind.

Sich um andere sorgen ist für ein positives Selbstbild, für das Wohlergehen existentiell.

Der Psychologe Viktor Frankl hat gesagt, dass sich Sinn im Leben nur in dem Maße einstellt, in dem sich Menschen für etwas engagieren, das außerhalb ihrer selbst liegt. Dies ist eine andere Umschreibung der Sorgebeziehung.

Johann Sebastian Bach, über den Sie ein Buch geschrieben haben, war in seinen letzten Lebensjahren sehr krank, litt unter den Folgen eines Schlaganfalls und einer Altersdiabetes, sein Sehvermögen wurde immer schlechter. Trotzdem war er weiterhin ungemein produktiv. Was hat er richtig gemacht?

Eine ganze Menge. Johann Sebastian Bach war Zeit seines Lebens schöpferisch, offen für Neues. Er hat sich für andere Menschen engagiert, bis ins hohe Alter Schüler unterrichtet, viel für seine Familie getan. Er war ein gläubiger Mensch, dem der gelebte Glaube sehr viel bedeutete.

Ihre Frau war Direktorin mehrerer Wohnstifte. Was haben Sie von ihr gelernt?

Ich habe von ihr viel über die schöpferischen Kräfte alter Menschen gelernt. Ein Beispiel: Meine Frau hat mit Bewohnerinnen und Bewohnern ein Theaterstück einstudiert, William Shakespeares «Viel Lärm um nichts». Die Aufführung war sehr bewegend, da war unter den Schauspielern und im Publikum viel Begeisterung spürbar.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Auch über Demenz habe ich viel gelernt: So zum Beispiel, dass man den Betroffenen auch dann mit Respekt, Feinfühligkeit und Höflichkeit begegnen sollte, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist. In unserem Verhalten lebt etwas von der Biografie fort, die der Demenzkranke hatte: wir selbst dienen hier als Resonanzboden.

Wie können Altenheime ihre Angebote für Menschen mit Demenz verbessern?

Das Pflegepersonal benötigt dringend mehr zeitliche Ressourcen, um sich angemessen auf Bewohnerinnen und Bewohner einstellen zu können. Gerade für Menschen mit Demenz sind Aspekte wie innere Ruhe, Konzentration, Resonanz und Zeit sehr wichtig. Wie will man biografische Inseln entdecken, also Erinnerungen, Marksteine in der Lebensgeschichte des Patienten, wenn man für ihn nur wenig Zeit hat?

Verstehen Sie, warum mehr als die Hälfte der Bevölkerung findet: Ich bin lieber tot als dement?

Es ist viel zu wenig bekannt, dass Menschen mit Demenz durchaus Wohlbefinden erleben können. In einem geschützten und anregenden Umfeld können sie viel Freude und Glück erfahren. Die emotionalen Funktionen bleiben ja über weite Phasen der Erkrankung erhalten, gehen zumindest nicht ganz verloren. Wichtig ist, dass die Bewohnerinnen und Bewohner positiv stimuliert werden, von ihren Familien, durch die Pflegefachkräfte.

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Inwieweit sind Menschen mit Demenz in der Lage, kreative Bereiche wie Kunst oder Musik zu pflegen?

Kreativität kann Menschen mit Demenz sehr viel geben. Wenn sie in früheren Phasen ihres Lebens an Kunst, Musik und Literatur interessiert waren, reagieren sie auch im Fall einer Demenz positiv auf solche Angebote. Das ist eine Ressource, die man unbedingt pflegen sollte, im Heim, in der Familie.

Menschen mit Demenz müssen damit zurechtkommen, dass durch die Krankheit ihre mentalen Fähigkeiten immer mehr eingeschränkt sind. Wie weit berührt das in ihrem Erleben ihre Würde?

Das hängt vor allem davon ab, welche Bedeutung die kognitiven Fähigkeiten vorher für sie hatten. Für Menschen, die sich primär über ihre kognitive Kompetenz definieren, ist der Verlust der mentalen Leistungsfähigkeit eine Bedrohung – auch für ihr Gefühl der persönlichen Würde.

Wie kann es gelingen, dass die Außenwelt diesen Menschen ihre Würde belässt?

Das lässt sich nicht verallgemeinern. Wir sollten uns aber immer vor Augen führen, dass sich im Leben eines demenzkranken Menschen möglicherweise auch unsere eigene Zukunft zeigt, auch wir können an Demenz erkranken. Wenn wir uns das bewusst machen, werden wir mit größerem Respekt auf diese Menschen zugehen.

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Gibt es in Ihrem nahen Umfeld jemanden, der an Demenz erkrankt ist?

Eigentlich von meiner Jugendzeit an bis heute. Gelernt habe ich, wie wichtig die Solidarität mit ihnen ist. Man darf sie nicht allein lassen, denn unfreiwillige Einsamkeit wirkt bei ihnen noch belastender als bei alten Menschen, die nicht erkrankt sind. Und man darf mit ihnen nicht das Lachen, die Freude und den Humor vergessen.

Haben Sie selbst Angst davor, an einer Demenz zu erkranken?

Nein. Ich vertraue hier auf meine nächsten Personen, dass sie mich nicht im Stich lassen, sondern halten. Ich vertraue auf eine gute Pflege, die mich unterstützt und begleitet. Nicht zuletzt vertraue ich auf den großen Gott, der mich trägt. Und schließlich weiß ich, dass auch in der Demenz gute, glückliche Stunden möglich sind: Wenn ich in einem Umfeld lebe, das mich mag, achtet und unterstützt.

Haben Sie Pläne, was Sie nach Ihrer Pensionierung machen wollen?

Ich habe vor, bis 66 zu arbeiten, also bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter. Danach möchte ich gern etwas Soziales tun, zum Beispiel Telefonseelsorge oder Musikunterricht für Kinder und Jugendliche, deren Eltern sich das nicht leisten können.

Sie haben zwei Enkelkinder und sind beruflich sehr eingespannt. Wie finden Sie die Zeit, sich um die Enkel zu kümmern?

Meine Frau und ich haben einen sehr schönen, lebendigen Kontakt zu ihnen, es sind neugierige, kluge und zugewandte Jugendliche. Wir Großeltern wissen, was wir an ihnen haben, und ich hoffe, auch sie merken, was sie an uns haben.


Andreas Kruse. Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife, 507 Seiten, Springer Verlag

Andreas Kruse. Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach. Psychologische Einblicke, 374 Seiten, Springer Verlag