«Mirrors» heisst ein Song der irischen Sängerin Sally Oldfield von 1978, zauberhaft leicht und unverstellt froh. Ein Lied über die helle Freude der Liebe. Es scheint mir der ideale Ausdruck für den Zustand der Demenz zu sein. Wo ist die Gemeinsamkeit? Im Vergessen der Zeit, in der Auflösung des Raums.
Liebende und Menschen mit Demenz leben in der Zeitlosigkeit und wissen nicht mehr, wo sie sind, ein Zustand des reinen Seins, come be with me for we are, we are, we are: «Komm, sei mit mir, damit wir sind, sind, sind.»
Diese freundliche, aber sicherlich nicht immer zutreffende Vorstellung davon, was Demenz ist, hat mich, als ich 60 wurde, dazu veranlasst, meiner Frau zu verkünden, ich würde im höheren Alter gerne in diesem Zustand versinken, um einfach langsam aus dem Leben zu dämmern. Ihre Antwort darauf war: «Untersteh’ dich!» Sollte heißen: Kommt auf keinen Fall in Frage, wage es bloß nicht, es mag dir ja angenehm erscheinen, aber für den, der dich pflegen muss, ist es nicht so.
Könnte es sein, dass die Demenz kein Problem des Dementen ist, sondern seiner Umgebung?
Da ich noch nicht aufgeben wollte, erzählte ich auch meinen Geschwistern von meinem Plan fürs Hinausdämmern aus dem Leben, aber die meinten nur: «Mach’ dir keine Hoffnung!». In der gesamten Familiengeschichte ist, soweit bekannt, mindestens 100 Jahre rückwärts kein Fall von Demenz aufgetreten. Sollte es zutreffen, dass die Veranlagung zur Demenz erblich ist, war mein Plan also endgültig Makulatur.
So beschäftige ich mich nun eben theoretisch mit der Demenz. Wenn Zeit- und Ortlosigkeit typisch für sie ist, bezeichnet das nach gängigen Kriterien Heimatlosigkeit. Liebende haben ihre Heimat ineinander, deswegen ist es für sie uninteressant, wo sie sind und was die Stunde geschlagen hat. Pubertierende haben ihre Heimat beieinander, daher brauchen sie vorübergehend keine Eltern mehr.
Wo aber ist die Heimat der Dementen? Dass sie etwas vermissen, kommt zum Vorschein, wenn sie immer wieder die Sehnsucht äußern, nach Hause gehen zu wollen, auch wenn sie zu Hause sind.
Man könnte die Demenz auch als Heimweh beschreiben, räumlich und ebenso zeitlich,
Wo können Menschen in einer für sie befremdlichen Umgebung eine Heimat finden? In Gewohnheiten, die schon vom Wort her viel mit Wohnung zu tun haben: Menschen wohnen primär in Gewohnheiten, erst sekundär in Wohnungen, und auch in Wohnungen nur insofern, als es sich bei diesen um Orte voller Gewohnheiten handelt.
Das ist für den Umgang mit dem dementen Menschen von Bedeutung, denn in Gewohnheiten findet er sich noch halbwegs zurecht und findet ein Stück Heimat in ihnen, wenn die Pflegenden seine Gewohnheiten achten und ihm nicht zum Vorwurf machen.
Aber auch die Pflegenden selbst brauchen die Pflege von Gewohnheiten für die bessere Verankerung in ihrem Leben,
Weitere Möglichkeiten tun sich auf, wenn die Frage intensiviert wird: Was geschieht eigentlich in der Demenz? Was sich offenkundig verändert und womöglich ganz verlorengeht, ist die Person. Person im Sinne von Ich-Bewusstsein und Fähigkeit zur Überlegung und Entscheidung. Der Mensch bleibt, aber die Person geht.
Die Person ist gleichwohl nicht das Wesentliche eines Menschen. Das mag überraschend sein, weil die Person, das Persönliche, die Persönlichkeit im alltäglichen Umgang so bestimmend ist. Es gibt jedoch etwas, ohne das die Person, ja, der Mensch selbst, nichts ist. Das ist die Energie, die einen Menschen, wie jedes Wesen, trägt. Nicht unbedingt unbekannte, geheimnisvolle, sondern gut bekannte, messbare Energien: Wärmeenergie, elektrische Energie, Bewegungsenergie, biochemisch gespeicherte Energie.
Wenn die Energie schwindet, schwindet das Leben. Ohne Energie gibt es kein Leben, also ist sie das Wesentliche, nicht die Person.
Wenn das so verstanden werden kann, gilt die Sorge im Leben sinnvollerweise der Energie, aus der heraus ein Mensch lebt, sowohl der Demente als auch der Pflegende: Welche Energie steht mir zur Verfügung? Wo vergeude ich sie sinnvoll oder sinnlos? Wie kann ich neue hinzu gewinnen, mit welchen Erlebnissen und Begegnungen, mit welcher Art von Aufmerksamkeit, Meditation, Konzentration, Gebet, Erotik, Romantik?
Energie wird spürbar in ekstatischen Erfahrungen, in intensiver Sinnlichkeit, in der starken Bewegtheit durch Gefühle, bei ausgiebigen Ausflügen ins Reich der Gedanken, bei einem tief schürfenden Gespräch oder einer Lektüre, beim Versinken im Spiel oder in einer Tätigkeit, bei jeder Art von «Flow» und Traumseligkeit.