Was aber ist der angemessene Umgang mit Menschen, die ihre Funktionen, welche das Menschsein ausmachen, verloren haben? …wann hört ein Mensch auf, Mensch zu sein? Diese Fragen führen unmittelbar zu jener nach dem würdigen Ende unseres Lebens … (Gottfried Schatz: «Abschied vom Ich», NZZ, 4.Juni 2015)
Die Antworten auf so grosse Fragen wie Was ist Leben?, Was ist eine Person? oder Was ist der Tod? werden nicht vor allem in philosophischen Seminaren oder Ethikkommissionen formuliert, sondern durch die alltägliche Praxis auf Intensivstationen, in der Transplantationsmedizin oder in Pflegeheimen sowie in Leserbriefen und Online-Kommentaren zu Berichten über die erschreckende Zunahme der Zahl von Demenz-Erkrankten.
Das Konzept des Hirntodes verdanken wir nicht etwa neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Wesen des Todes, sondern dem Wunsch nach mehr transplantationsfähigen Organen.
Diese Antworten sind alles andere als bloss akademisch, sie können über Leben und Tod entscheiden, indem sie festlegen, was «noch» Leben in einem empathischen Sinn ist oder nur noch blosses Vegetieren. Sie ziehen weitere Fragen nach sich, die nicht mehr ganz so subtil sind, wie die nach dem Wesen personaler Existenz.
Zum Beispiel: Wie kann ich dafür sorgen, dass ich meinem Leben noch rechtzeitig und selbstbestimmt ein Ende setzen kann, bevor ich im geistigen Zustand eines Gemüses in einem Heim vor mich hin vegetiere? Oder: Wie soll eine Gesellschaft das auf Dauer noch bezahlen?
Als Gunter Sachs sich 2011 das Leben nahm, weil er befürchtete, an Demenz erkrankt zu sein, kommentierte der Berliner Schriftsteller Peter Schneider im Tagesspiegel:
«Die Politiker sagen ihren Wählern nicht, was die ‹Kollateralschäden› der viel gefeierten Lebensverlängerung sind: Jeder vierte Bürger über 85, jeder dritte über 90 wird an Demenz erkranken. Die Gesellschaft schliesst vor diesem wachsenden Millionenheer die Augen und schiebt es in meist menschenunwürdige Verwahranstalten ab oder überlässt es überforderten Angehörigen. Mithilfe der Kirchen drückt sie sich aber auch um die Frage herum, ob diejenigen, die ein Leben mit der Demenz nicht auf sich nehmen wollen, nicht ein Menschenrecht auf einen selbstbestimmten Tod haben.»
Für jemanden, der seine Karriere als Intellektueller in der Studentenrebellion von 1968 begann, ist das eine seltsame Position, welche gegen die Abschiebung in «menschenunwürdigen Verwahranstalten» als gleichsam naturwüchsige Alternative zum «selbstbestimmten Tod» unterstellt: Mit Würde von dieser Welt gehen, bevor einen die Demenz (ein)holt.
In einer online-Umfrage des Tages-Anzeigers «Verstehen Sie, dass jemand wegen der Diagnose Alzheimer den Freitod wählt?» anlässlich von Gunter Sachs’ Suizid antworten 82,2 Prozent von 903 Teilnehmern mit «Ja».
In seinem Buch The Ethics of Killing knüpft der Moralphilosoph Jeff MacMahan die Rechte eines Menschen an die Existenz seines Selbstbewusstseins: «Wenn eine Person sich dauerhaft in einem ‹vegetativen› Zustand befindet, hört sie zu existieren auf. Was übrig bleibt, ist ein lebendiger, aber unbesetzter menschlicher Organismus.»