Zwischen Heimweh und Abgrenzung - demenzjournal.com
chatbot

Das Tagebuch (87)

Zwischen Heimweh und Abgrenzung

»Ach, wie gern würde ich losziehen. Doch immer wieder bin ich verunsichert. Wer weiss, wie es Paul im Mai geht?« U.Kehrli

Frau Kehrli hat für sich Ferien in Spanien gebucht, ohne Paul etwas davon zu sagen. Obwohl sie sich wahnsinnig darauf gefreut hat, plagt sie jetzt ein schlechtes Gewissen. Hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht und Pflichtgefühl, sagt sie schliesslich alles wieder ab.

13. November 2013 – Im Regen tanzen

Warte nicht, bis der Sturm vorbei ist, sondern lerne, im Regen zu tanzen.

Das vierte Gespräch mit der Psychologin. Es geht mir ganz gut, im Allgemeinen. Echt, ich lerne im Regen zu tanzen. Ich bin nass, es hat viele Pfützen, dennoch, ich kann mich wieder freuen, auch mal lachen.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Die vier Säulen zu beachten, die mir S. erklärt hat, ist echt hilfreich: Genug Schlaf, Essen/Trinken, regelmässig Gemeinschaft pflegen, Bewegung. Letzte Woche fühlte ich mich elend und fragte mich, wo habe ich ein Manko? Bewegung war dran, also ging ich los nach Matzenried Eier holen. Eine Dreiviertelstunde, durch den Wald.

Unterwegs traf ich Klaus. Nach mehreren Streifungen ist seine rechte Körperhälfte leicht gelähmt. Er geht mühsam am Stock, ist das Vorbild eines Überwinders. Ruth, seine Frau, leidet an Demenz, gemeinsam können sie den Alltag gerade noch meistern.

Plötzlich schaute mich Klaus ganz ernst an: Du, Ursula, ich möchte Dich gerne etwas fragen. Es tönte so andächtig, wie wenn ein Verliebter fragen würde: Willst Du mich heiraten? Nach einer Pause fragte er mich, ob mir das Pflegeheim in Oberried bekannt sei. Schallendes Gelächter meinerseits. Tut gut. Ich finde, Erwachsene müssen wieder lernen zu lachen.

Doch heute Morgen gelingt mir solche Erheiterung nicht. Nun gut, ich leide etwas unter Schlafmangel. Zudem plagen mich Schmerzen, habe wohl zu viele Fitnessübungen gemacht. Sollte eigentlich alles etwas lockerer angehen, ich sei zu streng mit mir, stellte die Psychologin fest. Sollte mich mehr lieben, mir etwas gönnen, nicht so streng mit mir ins Gericht gehen. Das Leben geniessen. Das wäre wohl die fünfte Säule, die ich mir merken sollte. Nun, wenigstens gestern lebte ich das Leben und genoss es ausgiebig. Satte Zufriedenheit, Freude pur.

17. November 2013 – Zwischen Heimweh und Abgrenzung

Sonntagnachmittag. Paul schläft am langen Gemeinschaftstisch im Heim. Ich mag den Ort nicht. Hier sitzen die 14 Bewohner und starren hinaus oder an die Wand. Wenn einer spricht, nickt das Gegenüber, versteht nichts, aber stimmt dem Sprechenden zu. Andere schweigen vor sich hin. Beklemmendes Gefühl.

Ich gehöre nicht dazu, möchte es auch nicht. Viel lieber bin ich mit Paul allein in seinem Zimmer. Da fühle ich mich für zwei Stunden ihm nahe. Noch lieber das Nachhause-Gehen. Um gleich wieder vom Auf und Ab der Gefühle belastet zu sein. Ich möchte ihm nahe sein, doch muss ihn loslassen, muss mich abgrenzen, um mit meinem Alltag als von-meinem-Mann-Getrennte leben zu können.

Das neue Leben allein zuhause läuft nun im Trott. Mich überwinden etwas zu kochen – muss ja bei Kräften bleiben, habe keine andere Wahl, muss allein essen. Pauls Bett habe ich kurz nach der Trennung verschenkt. Die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, was soll‘s, er wird nie mehr heim kommen. Musste der Realität ins Auge blicken.

Paul ist in einen Tiefschlaf versunken, er taucht kurz auf brummt etwas, als ich ihn zur Begrüssung küsse, dann lehnt er seinen Kopf wieder an die Wand. Traurigkeit umfängt mich, ich lege ihm den Apfelkuchen auf den leeren Teller, sein Kaffee ist inzwischen kalt geworden. Anna kommt. Immer tröstlich, sie zu sehen, hatte sie gestern vermisst. Wir gehen ins Café, auch ihr Mann schläft tief, ist noch im Bett.

Wir haben uns viel zu erzählen. Es tut gut, sich mit Anna auszutauschen. Sie ist eine Schicksalsgefährtin. Nach einer Weile fahren wir wieder in den 3. Stock, in die geschlossene Abteilung für Demenzkranke. Paul schläft noch immer tief. Was geht in ihm vor? Auch gestern nahm er mich kaum wahr, ob auch er versucht, sich abzugrenzen? Manchmal ist er recht böse auf mich, wenn ich mich verabschiede.

Traurig, verzweifelt: Wir gehören doch zusammen? Er stammelte die Worte. Ich verstand genau, was er meinte. Ja, wir gehören zusammen, sollten nicht als Getrennte leben müssen.

Auch hier ist Paul nachts viel unterwegs, wie früher zuhause, tagsüber schläft er viel. Und Bekannte fragten mich ernsthaft, warum ich ihn ins Heim gegeben habe? Wann ich ihn wieder nachhause nähme? Echt jetzt? Feinfühlige Besserwisser.

Irgendwann verabschiede ich mich. Paul ist nicht aufgewacht. Müde und erschöpft zuhause angekommen, versuche ich mich aufzufangen, der Fernseher läuft, ich mache PC Spiele, muss mich auf andere Gedanken bringen.

18. November 2013 – Es wagen, einfach zu gehen

Schlecht geschlafen, geträumt: Bin überfahren worden, man hat mir Trödelwaren von Hausräumungen in meine Wohnung gestellt, ohne mich zu fragen, einfach so …

Gerädert stehe ich auf, mit dem mulmigen Gefühl grosser Unzufriedenheit und Unruhe. Dichter Nebel hüllt alles ein. Heute ist mein Freitag. Unschlüssig stehe ich herum, weiss nicht was ich will. Dann mutig: Ab an die Sonne! Überwinden, etwas tun, nicht rumhängen! Ich fahre nach Thun will zu Fuss nach Gwatt.

Ich will beim Vorbeifahren nicht nach dem Pflegeheim schauen. Dennoch strecke ich mich, um einen Blick zu erhaschen. Dieses schlechte Gefühl muss ich aushalten lernen, dieser Tag gehört mir … Ich lebe, ich muss Kräfte sammeln, ich darf den freien Tag geniessen. Es wäre einfacher gewesen, zuhause zu bleiben. Decke über den Kopf ziehen, nichts tun.

Erneut beschleicht mich ein ungutes Gefühl beim Gedanken an die bereits gebuchte 10-tägige Reise nach Spanien im Mai. Santiago del Compostela! Teilstücke auf dem Jakobsweg pilgern, das Gepäck folgt im Reisecar. Die Hotels sind gebucht und wer nicht mehr pilgern mag, kann sich chauffieren lassen.

demenzwiki

Apathie

Viele Menschen mit Demenz werden apathisch. Mit klarer Kommunikation, einfachen Angeboten und Geduld kann es gelingen, die Betroffenen zu aktivieren. weiterlesen

Ach, wie gern würde ich losziehen. Doch immer wieder bin ich verunsichert. Wer weiss, wie es Paul im Mai geht? Wird er mich nicht zu sehr vermissen, werde ich die Ferientage auch geniessen können? Spontan hatte ich mich angemeldet, so gross war meine Sehnsucht, diese Reise zu buchen. Doch der Druck und die Bedenken sind ständig da. Und doch, wenn nicht jetzt, wann dann? Ich werde älter, die Kräfte lassen nach.

Im Alter hat man seine Aufs und Abs. An einem Tag könnte ich Bäume ausreissen, anderntags überfallen mich diese Verstimmungen, ja, oft habe ich richtig den »Verleider«. So war es auch heute. Doch ich weiss inzwischen, dass ich dem nicht nachgeben darf, um nicht in eine Depression zu versinken. Immer wieder heisst es: Überwinden, überwinden, überwinden!

8. Dezember 2013 – Schreibpause

Drei Wochen Schreibpause. Ich war zu müde, zu beschäftigt. Muss viel mehr ruhen als früher, damit ich morgens aus dem Bett komme. Mühsam wälze ich mich aus den Federn, alles tut weh, dann beginnt das Fitnesstraining. Bescheiden – dem Alter angepasst –, aber wirkungsvoll. Schon nach ein paar gezielten Übungen fühle ich mich besser.

Drei Wochen lang Aushalten, Durchstehen, Ertragen. Auf-die-Schulter-klopf, gut gemacht, Mädchen. Das sage ich mir laut. Das hilft. Wer spricht mir sonst Mut zu? Ich lerne mit mir selbst zu sprechen, brauche auch etwas Zuspruch.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

Jetzt spenden

Die vergangenen drei Wochen waren gespickt mit dennoch-Freude-erleben-dürfen. Zwischendurch etwas Freiraum nehmen, ein Spaziergang, ein Einkaufsbummel in der Stadt, auch in Thun – Bahnfahrten entspannen. Kurz ein Spitalbesuch bei der Nachbarin. Ein Arztbesuch: Die Ultraschall-Untersuchung am Unterleib war ohne Befund, ich weiss nicht, woher die immer wiederkehrenden Schmerzen kommen. Er verschreibt mir Hormone, drei Monate lang. Abwarten.

Fit mit Turnübungen, regelmässig, nur wenige Minuten. Frauen-Liegestütze, Aufbauübungen. 15 Kniebeugen, 80 Mal Hände spreizen im Tempo, im trockenen Schwimmen, Radfahren ohne Strasse. Nun hat gar der Blick ein solches 7-Minuten-Programm publiziert. Nach einem Monat sind meine Oberarme und die Finger kräftiger geworden – die Rampe hochgehen über die Autobahn geht leichtfüssiger.

Kurz, ich fühle mich fit. Nur der Ischias-Nerv macht mir Sorgen. Ginge es nach der Physiotherapeutin, wäre das als Aufschrei meiner Seele zu deuten. Da hat sie wohl Recht. Fünf Besuche bei Paul in einer Woche sind eindeutig zu viel. Muss wieder lernen, an mich selbst zu denken. Dennoch, die Reise nach Spanien habe ich abgesagt. Der Druck ist weg. Bin erleichtert. (Fortsetzung folgt …)