13. November 2013 – Im Regen tanzen
Warte nicht, bis der Sturm vorbei ist, sondern lerne, im Regen zu tanzen.
Das vierte Gespräch mit der Psychologin. Es geht mir ganz gut, im Allgemeinen. Echt, ich lerne im Regen zu tanzen. Ich bin nass, es hat viele Pfützen, dennoch, ich kann mich wieder freuen, auch mal lachen.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Die vier Säulen zu beachten, die mir S. erklärt hat, ist echt hilfreich: Genug Schlaf, Essen/Trinken, regelmässig Gemeinschaft pflegen, Bewegung. Letzte Woche fühlte ich mich elend und fragte mich, wo habe ich ein Manko? Bewegung war dran, also ging ich los nach Matzenried Eier holen. Eine Dreiviertelstunde, durch den Wald.
Unterwegs traf ich Klaus. Nach mehreren Streifungen ist seine rechte Körperhälfte leicht gelähmt. Er geht mühsam am Stock, ist das Vorbild eines Überwinders. Ruth, seine Frau, leidet an Demenz, gemeinsam können sie den Alltag gerade noch meistern.
Plötzlich schaute mich Klaus ganz ernst an: Du, Ursula, ich möchte Dich gerne etwas fragen. Es tönte so andächtig, wie wenn ein Verliebter fragen würde: Willst Du mich heiraten? Nach einer Pause fragte er mich, ob mir das Pflegeheim in Oberried bekannt sei. Schallendes Gelächter meinerseits. Tut gut. Ich finde, Erwachsene müssen wieder lernen zu lachen.
Doch heute Morgen gelingt mir solche Erheiterung nicht. Nun gut, ich leide etwas unter Schlafmangel. Zudem plagen mich Schmerzen, habe wohl zu viele Fitnessübungen gemacht. Sollte eigentlich alles etwas lockerer angehen, ich sei zu streng mit mir, stellte die Psychologin fest. Sollte mich mehr lieben, mir etwas gönnen, nicht so streng mit mir ins Gericht gehen. Das Leben geniessen. Das wäre wohl die fünfte Säule, die ich mir merken sollte. Nun, wenigstens gestern lebte ich das Leben und genoss es ausgiebig. Satte Zufriedenheit, Freude pur.
17. November 2013 – Zwischen Heimweh und Abgrenzung
Sonntagnachmittag. Paul schläft am langen Gemeinschaftstisch im Heim. Ich mag den Ort nicht. Hier sitzen die 14 Bewohner und starren hinaus oder an die Wand. Wenn einer spricht, nickt das Gegenüber, versteht nichts, aber stimmt dem Sprechenden zu. Andere schweigen vor sich hin. Beklemmendes Gefühl.
Ich gehöre nicht dazu, möchte es auch nicht. Viel lieber bin ich mit Paul allein in seinem Zimmer. Da fühle ich mich für zwei Stunden ihm nahe. Noch lieber das Nachhause-Gehen. Um gleich wieder vom Auf und Ab der Gefühle belastet zu sein. Ich möchte ihm nahe sein, doch muss ihn loslassen, muss mich abgrenzen, um mit meinem Alltag als von-meinem-Mann-Getrennte leben zu können.
Das neue Leben allein zuhause läuft nun im Trott. Mich überwinden etwas zu kochen – muss ja bei Kräften bleiben, habe keine andere Wahl, muss allein essen. Pauls Bett habe ich kurz nach der Trennung verschenkt. Die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, was soll‘s, er wird nie mehr heim kommen. Musste der Realität ins Auge blicken.
Paul ist in einen Tiefschlaf versunken, er taucht kurz auf brummt etwas, als ich ihn zur Begrüssung küsse, dann lehnt er seinen Kopf wieder an die Wand. Traurigkeit umfängt mich, ich lege ihm den Apfelkuchen auf den leeren Teller, sein Kaffee ist inzwischen kalt geworden. Anna kommt. Immer tröstlich, sie zu sehen, hatte sie gestern vermisst. Wir gehen ins Café, auch ihr Mann schläft tief, ist noch im Bett.
Wir haben uns viel zu erzählen. Es tut gut, sich mit Anna auszutauschen. Sie ist eine Schicksalsgefährtin. Nach einer Weile fahren wir wieder in den 3. Stock, in die geschlossene Abteilung für Demenzkranke. Paul schläft noch immer tief. Was geht in ihm vor? Auch gestern nahm er mich kaum wahr, ob auch er versucht, sich abzugrenzen? Manchmal ist er recht böse auf mich, wenn ich mich verabschiede.
Traurig, verzweifelt: Wir gehören doch zusammen? Er stammelte die Worte. Ich verstand genau, was er meinte. Ja, wir gehören zusammen, sollten nicht als Getrennte leben müssen.
Auch hier ist Paul nachts viel unterwegs, wie früher zuhause, tagsüber schläft er viel. Und Bekannte fragten mich ernsthaft, warum ich ihn ins Heim gegeben habe? Wann ich ihn wieder nachhause nähme? Echt jetzt? Feinfühlige Besserwisser.
Irgendwann verabschiede ich mich. Paul ist nicht aufgewacht. Müde und erschöpft zuhause angekommen, versuche ich mich aufzufangen, der Fernseher läuft, ich mache PC Spiele, muss mich auf andere Gedanken bringen.