14. Mai 2011 – Ein Sturm naht
Mittags schon kündigt sich der Sturm an. Paul läuft hin und her, rastlos wühlt er in Schubladen, Schränken. Wonach sucht er? Geht ins WC, dann vors Haus, will dort pinkeln. Ich führe ihn in die Wohnung zurück, versuche ihn mit einer Umarmung zu beruhigen, ihm Sicherheit zu geben. Er schaut durch mich hindurch, nimmt mich nicht wahr.
Telefon mit Spitex-Frau, bitte komm, hilf uns. Was läuft da ab? Was geschieht mit Paul? Derart getrieben und verwirrt! Unheimlich. Er spricht nicht, ich kann ihn nicht erreichen.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Als die Spitex-Frau kommt, liegt er auf dem Sofa, ist eingenickt, ich habe den Fernseher angemacht. Fussball, das wirkt meistens beruhigend auf ihn, ein vertrautes Bild, der grüne Rasen. Das Gespräch tut mir gut, darf sie jederzeit anrufen.
Abendessen, er will nicht zu Tisch. Doch endlich ist er da, die Tomaten-Spaghetti munden. Ich wasche das Geschirr, er trocknet ab, scheint sich etwas beruhigt zu haben. Doch nach einer Weile geht’s wieder los.
Herumirren, sich auf die Couch setzen, rastlos in der Wohnung umhergehen, Schlüssel aus dem Schlüsselkästchen nehmen, wieder zurück in die Küche, Teebeutel sortieren, Anzeiger aufschlagen, im WC einzelne Papierchen ab der Rolle reissen, ein paar Buchstaben darauf kritzeln.
Ich reiche ihm einen Schreibblock, er schreibt, ich könne es dann abends lesen, sagt er zwischen den einzelnen Buchstaben. Mir scheint es ein verzweifelter Versuch zu sein, sich zu bestätigen. Ich kann noch schreiben. Er sucht irgendeinen Halt, Hilfe, eine Orientierung im Dschungel des Verlorenseins.
Ich stelle keine Fragen, versuche zu erraten, was ihn beschäftigt, finde keinen Anhaltspunkt, weiss nicht, wo er sich in Gedanken bewegt. Schalte den Fernseher ein, suche Fussball. Erstaunlich, heute klagt er nicht über Knieschmerzen, er stöhnt auch nicht beim Hinsitzen.
Er ist plötzlich so ungewöhnlich flink geworden beim Gehen. Sonst bewegt er sich bedächtig langsam, eher ungelenk und steif.
«Ich will nur schnell mal …», und draussen ist er, geht flink Richtung Werkstatt, ich sehe noch, dass er meinen Schlüsselbund dabei hat, da ist auch der Garagenschlüssel dran. Ich gehe schnell das Mobiltelefon holen, rufe die Spitex-Frau an, fühle mich so aufgewühlt hilflos, voller Angst, unsicher.
Schon ist er nicht mehr zu sehen. Ich gehe zurück, die Taschenlampe holen. Wo kann er nur sein? Im Garten, pinkeln? Die Werkstatt ist finster, ohne Licht ist es unmöglich, sich zurechtzufinden. Dort herrscht seit einiger Zeit ein Durcheinander, ist zum Abstellraum geworden. Auch den Geräteschuppen benutzt er nur noch als Depot für Garten, Abfall, Altpapier.
In der Garage ist es auch finster. Hinter dem Haus, wo er manchmal pinkelt, ist er auch nicht. Mir ist kalt, meine Füsse sind nass geworden, ich trage nur Sandalen, in der Eile wechselte ich nicht mal die Schuhe, habe auch keine Jacke übergezogen.
Vor dem Haus kein Paul. Auf der Strasse auch nicht. Beim Vorplatz des Nachbarn ist vor einer Weile das Licht angegangen, ob er vielleicht dort ist?
Noch immer habe ich die Spitex-Frau am Telefon, sie rät mir, die Nachbarn aufzubieten. Nur ungern gehe ich die Treppe hoch, mag nicht stören. Christian ist sofort bereit für eine Suchaktion, Katja kommt auch. Sie gehen die Strasse hinunter Richtung Bahnhof, ich suchen weiter ums Haus herum.
Nach einer Viertelstunde, völlig überraschend, taucht Paul aus der Finsternis auf. Durchnässt, fröstelnd. Wo war er? Keine Ahnung.