Im Auge des Wirbelsturms - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (48)

Im Auge des Wirbelsturms

«Sie haben ihn in einen «Strampelsack» gesteckt, seine Hände sind dick mit Gaze verbunden, wie Boxerhandschuhe. Entschuldigend begrüssen mich die beiden Ärzte. Sie hätten ihn nun doch sedieren müssen, sie hätten keine andere Wahl gehabt.» Bild U. Kehrli

Man sieht sie schon von weitem heranfegen. Diese dunkle Säule, Unheil ankündigend. Ich sehe eine finstere Wand auf uns zukommen, kann nicht ausweichen – niemand weiss, wann und wie der Wirbelsturm über uns hereinbricht.

14. Mai 2011 – Ein Sturm naht

Mittags schon kündigt sich der Sturm an. Paul läuft hin und her, rastlos wühlt er in Schubladen, Schränken. Wonach sucht er? Geht ins WC, dann vors Haus, will dort pinkeln. Ich führe ihn in die Wohnung zurück, versuche ihn mit einer Umarmung zu beruhigen, ihm Sicherheit zu geben. Er schaut durch mich hindurch, nimmt mich nicht wahr.

Telefon mit Spitex-Frau, bitte komm, hilf uns. Was läuft da ab? Was geschieht mit Paul? Derart getrieben und verwirrt! Unheimlich. Er spricht nicht, ich kann ihn nicht erreichen.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Als die Spitex-Frau kommt, liegt er auf dem Sofa, ist eingenickt, ich habe den Fernseher angemacht. Fussball, das wirkt meistens beruhigend auf ihn, ein vertrautes Bild, der grüne Rasen. Das Gespräch tut mir gut, darf sie jederzeit anrufen.

Abendessen, er will nicht zu Tisch. Doch endlich ist er da, die Tomaten-Spaghetti munden. Ich wasche das Geschirr, er trocknet ab, scheint sich etwas beruhigt zu haben. Doch nach einer Weile geht’s wieder los.

Herumirren, sich auf die Couch setzen, rastlos in der Wohnung umhergehen, Schlüssel aus dem Schlüsselkästchen nehmen, wieder zurück in die Küche, Teebeutel sortieren, Anzeiger aufschlagen, im WC einzelne Papierchen ab der Rolle reissen, ein paar Buchstaben darauf kritzeln.

Ich reiche ihm einen Schreibblock, er schreibt, ich könne es dann abends lesen, sagt er zwischen den einzelnen Buchstaben. Mir scheint es ein verzweifelter Versuch zu sein, sich zu bestätigen. Ich kann noch schreiben. Er sucht irgendeinen Halt, Hilfe, eine Orientierung im Dschungel des Verlorenseins.

Ich stelle keine Fragen, versuche zu erraten, was ihn beschäftigt, finde keinen Anhaltspunkt, weiss nicht, wo er sich in Gedanken bewegt. Schalte den Fernseher ein, suche Fussball. Erstaunlich, heute klagt er nicht über Knieschmerzen, er stöhnt auch nicht beim Hinsitzen.

Er ist plötzlich so ungewöhnlich flink geworden beim Gehen. Sonst bewegt er sich bedächtig langsam, eher ungelenk und steif.

Nun geht er wieder an die Haustüre, oh, nein, es ist nicht abgeschlossen! Ich kann ihn nicht davon abhalten, in die finstere, regnerische und kühle Nacht hinauszugehen.

«Ich will nur schnell mal …», und draussen ist er, geht flink Richtung Werkstatt, ich sehe noch, dass er meinen Schlüsselbund dabei hat, da ist auch der Garagenschlüssel dran. Ich gehe schnell das Mobiltelefon holen, rufe die Spitex-Frau an, fühle mich so aufgewühlt hilflos, voller Angst, unsicher.

Schon ist er nicht mehr zu sehen. Ich gehe zurück, die Taschenlampe holen. Wo kann er nur sein? Im Garten, pinkeln? Die Werkstatt ist finster, ohne Licht ist es unmöglich, sich zurechtzufinden. Dort herrscht seit einiger Zeit ein Durcheinander, ist zum Abstellraum geworden. Auch den Geräteschuppen benutzt er nur noch als Depot für Garten, Abfall, Altpapier.

In der Garage ist es auch finster. Hinter dem Haus, wo er manchmal pinkelt, ist er auch nicht. Mir ist kalt, meine Füsse sind nass geworden, ich trage nur Sandalen, in der Eile wechselte ich nicht mal die Schuhe, habe auch keine Jacke übergezogen.

Vor dem Haus kein Paul. Auf der Strasse auch nicht. Beim Vorplatz des Nachbarn ist vor einer Weile das Licht angegangen, ob er vielleicht dort ist?

Nein, nichts. Panik erfüllt mich. Ob er zur Bahn hinunter gelaufen ist? Oder hinauf Richtung Wald?

Noch immer habe ich die Spitex-Frau am Telefon, sie rät mir, die Nachbarn aufzubieten. Nur ungern gehe ich die Treppe hoch, mag nicht stören. Christian ist sofort bereit für eine Suchaktion, Katja kommt auch. Sie gehen die Strasse hinunter Richtung Bahnhof, ich suchen weiter ums Haus herum.

Nach einer Viertelstunde, völlig überraschend, taucht Paul aus der Finsternis auf. Durchnässt, fröstelnd. Wo war er? Keine Ahnung.

Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Die beiden Mieter verabschieden sich, lassen mich mit Paul allein, um ihn nicht abzulenken. Dafür bin ich dankbar, endlich kann ich ihn ins Haus locken. Wieder Unrast, von einem Raum in den andern, wortlos an mir vorbei. Und wo sind meine Schlüssel?

Nun spüre ich, dass mir die Reserven fehlen, schon tagsüber völlig am Anschlag, bin ich nun total am Ende. Muss tief durchatmen, nur nicht schlapp machen!

Er will wieder hinaus, versuche ihn daran zu hindern. Erst mit Liebe, Geduld, Freundlichkeit, dann gibt es ein aggressives Handgemenge, ich fürchte um meine Handgelenke, er will nicht, Punktum. Ich versuche ihn dennoch aufzuhalten. Lieb, geduldig … .

Mit eiserner Kraft umfasst er meine Handgelenke, er tut mir weh, schliesslich brülle ich ihn an, «Nein, geh nicht! Komm sofort ins Bett. Basta!» Das wirkt, mein letzter Ausweg.

Wenn ich etwas nicht an mir mag, ist es dieser Tonfall, den ich soeben angeschlagen habe. Doch er ist mein Notausstieg.

Darauf reagiert er, dieser Ton – so ungewohnt von mir zu hören – wirkt. Das ist nun die Hauptsache, ich bin müde, aufgeregt, möchte endlich schlafen gehen.

Ich gehe Zähne putzen, er irrt herum, schaut mir zu, lässt sich endlich auch dazu bewegen. Lange steht er vor dem Lavabo, nun geht alles wieder im Schneckentempo. Noch zwei weitere Mal kann ich verhindern, dass er zur Tür hinausgeht.

Ich schlüpfe ins Bett, noch angezogen, zur Sicherheit. Dann endlich, endlich lässt er sich dazu bewegen, sich auszuziehen, dann steigt er wortlos ins Bett.

Um Mitternacht – aufatmen – höre ich ihn schnarchen. Ich nehme meinen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche, kann endlich abschliessen. Schnell noch eine Nachricht zur Entwarnung an meine Spitex-Frau. Ein «Rauchzeichen», wie sie sagt. Seit langem schlafe ich unruhig. Immer wieder ein besorgter Blick auf sein Bett – ist er noch da? Wenn ich bloss mal durchschlafen könnte, in Ruhe.

15. Mai 2011 – Mitten im Sturm

Sonntag. Paul ist früh wach, es ist kurz nach fünf Uhr, er steht auf, geht Frühstück machen. Der Tag beginnt mit Unruhe, Aggression. Wo sind meine Schlüssel?!

Ich versuch‘s: Ein halbes Temesta löst sich im Kaffee auf. Meine Rettung, soll er meinetwegen schläfrig sein heute. Notbremse. So kann es ja nicht weiter gehen. Das ist viel zu anstrengend, für ihn und für mich. Ich will ja nur, wie ich immer sage, einen langen Atem behalten. Ich darf nicht flach werden.

Er will in den Gottesdienst. In der Kirche wirkt er wie nicht da. Besuch bei Marlene und Hans. Kurz vor zwölf Uhr fahren wir los, ich bringe eine Kokostorte mit, schön verziert, mach ich doch gerne. Auch Carlo ist eingeladen. Ich freue mich auf die Gespräche, aufs feine Essen.

Paul ist ruhig, isst, geniesst, redet kaum. Nach dem Essen fängt die Rastlosigkeit wieder an. Er steht auf, will zur Haustüre hinaus, dann aufs WC, Marlene führt ihn zum Sofa – sich hinlegen tut gut.

Er liegt keine fünf Minuten, dann kommt er wieder zu uns an den Tisch. Will unbedingt Abwaschen in der Küche, ein Hin und Her. Mich nervt’s zunehmend. Um drei Uhr brechen wir schliesslich auf.

Wir konnten keine Gespräche führen, immer wieder drängte und drängelte er, konnte sich kaum ausdrücken, hatte grosse Wortfindungsprobleme.

Hoffe, dass er sich wenigstens zuhause hinlegt. Lasse den Fernseher an, suche Fussball, gehe an den Computer, beobachte Vögel über Live-Cams. spiele Patience. Ich versuche meine Ruhe zu finden. Endlich ist er auf der Couch eingeschlafen.

Nachtessen: weiche Eier, Brot und Käse. Wir hatten ja ein herrliches Mittagessen. Sonderbar, Paul weiss nicht mehr, wie man das Ei auslöffelt. Er nimmt etwas vom Ei und legt es in den Eierbecher. Er wirkt sehr abwesend, unbeholfen, es hat ihn heute sehr angestrengt. Aber auch ich bin müde, achte nicht mehr auf alles, was er macht.

Er geht mit dem Geschirr zum Abwaschtrog, wäscht ab. Ich gehe zurück an den PC, bis halb acht, dann zurück in die Stube, will die Tagesschau sehen. Paul setzt sich an den Stubentisch, bestaunt das Puzzle, das beinahe fertig ist, sitzt allerdings auf der falschen Seite, um noch daran zu arbeiten. Die Augen fallen ihm zu. Ich wende mich dem Fernseher zu, bin froh, hat er sich beruhigt.

Es ist acht Uhr. Ein trauriger Anblick. Paul sitzt immer noch unbeweglich am Stubentisch, schläft, kämpft ab und zu mit dem linken Arm, der immer wieder seitlich hinunterfällt. Er lässt sich nicht überreden, ins Bett oder auf die Couch zu gehen.

Ich unterstütze ihn mit Kissen, damit er nicht seitlich vom Stuhl fällt. Er antwortet nicht – oh, muss der müde sein! Das halbe Temesta vom Morgen scheint immer noch zu wirken. Bin froh, dass er nicht mehr so rastlos herumtigert.

Doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Unruhe erfasst mich. Er war beim Abwaschen, wie immer. Das kann dauern, wenn er mit dem Abwaschlappen immer und immer wieder die beiden Becken austrocknet.

Einmal sah ich ihn die Schieber seines Medikamenten-Schächtelchen putzen. Er stiess mich aggressiv weg, liess mich nicht mal hinschauen.

Wie er nun so tief schlafend am Tisch sitzt, gehe ich in die Küche, seine Medikamente inspizieren. Heute hat er alle zuverlässig aufgefüllt. Doch jetzt fehlen drei Tagesrationen! Die von heute Sonntag hat er ja beim Nachtessen geleert. In den einzelnen Abteilen entdecke ich Wassertropfen. Ob er die zwei fehlenden Rationen auch noch eingenommen hat?

Ich rufe die Spitex-Frau an. Mir ist unheimlich zumute, messe Pauls Puls: Nur 45 Schläge – und seine Pupillen reagieren nicht auf Lichtreflexe. Seine Hände sind kalt, das Gesicht fahl, blass. Er reagiert nicht mal auf das Rasseln des Küchenweckers, den ich an sein Ohr halte.

Ob er doch eine Überdosis an Tabletten eingenommen hat? Was nun? Abwarten? Hilfe organisieren? Ich möchte ihm wenn immer möglich das Spital ersparen, jede Veränderung bringt viele Probleme mit sich. Aber was sollte ich tun?

Der Hausarzt ist nicht erreichbar. Schliesslich entscheiden wir uns doch für die Ambulanz. Einziger Ausweg. Zwingend, dringend, ich könnte nicht damit leben, einfach abzuwarten. Ein schrecklicher Gedanke, Paul auf diese Weise zu verlieren …

Inzwischen stelle ich alle Unterlagen zusammen. Medikamenten-Rezepte-Liste, die Medikamente, die Toilettensachen. Einmal mehr steht die Ambulanz vor dem Haus, zum Glück diesmal ohne Sirene, die Rettungsärzte tragen meinen Paul hinaus. Er reagiert nicht.

Im Spital stellen sie Fragen über Fragen, ich versuche klar zu antworten, lege alle Unterlagen vor. Was ist passiert? Er liegt da, bleich, teilnahmslos. Untersuchungen, Labor, warten, warten, einmal mehr warten. Auf harten, unbequemen Stühlen.

Mitternacht, mit dem Taxi nach Hause, Tränen. Wie gerädert sinke ich ins Bett. Irgendwann muss ich doch eingeschlafen sein. Schrecke auf: das Telefon klingelt.

Es ist drei Uhr, kann mich kaum erheben. Am Draht der Notfall des Insel Spitals: Bitte kommen sie so schnell wie möglich, wir können ihren Mann nicht beruhigen. Wenn er sie sieht, wird es bestimmt besser.

Ich lege auf, überlege. Jetzt so übermüdet und schlaftrunken mit dem Auto ins Spital fahren? Ist das zu verantworten? Stossgebet, fahre einfach los. Gruss an der Pforte, man kennt sich schon, darf das Auto stehen lassen. Ich schleppe mich durch die langen, stillen Gänge und höre von weitem das vertraute Schnarchen meines Mannes.

Sie haben ihn in einen «Strampelsack» gesteckt, seine Hände sind dick mit Gaze verbunden, wie Boxerhandschuhe. Entschuldigend begrüssen mich die beiden Ärzte. Sie hätten ihn nun doch sedieren müssen, sie hätten keine andere Wahl gehabt.

Er sei überall herumgerannt, total verwirrt, war nicht mehr aufzuhalten. Armer Paul. Im Delir. Das war zu befürchten.

«Morgen können sie ihn abholen», klärt mich der Arzt auf. Ich schaue ihn lange an. Da korrigiert er sich: Nein, sie würden ihn sofort ins Lory Spital verlegen. Für weitere Abklärungen, fügt er hinzu.

Ich frage mich, was er wohl in meinem Gesicht gelesen hat? Sah er die ganze Verzweiflung der letzten Wochen, des gestrigen Tages? Habe ich ihn so entsetzt angeschaut? Hilflos, ohnmächtig, verzweifelt?

16. Mai 2011 – Im Auge des Sturms

Irgendwann am Vormittag erwache ich. Verwundert schaue ich auf das gemachte Bett neben mir. Langsam kommen die Erinnerungen an die vergangene Nacht. Was ist mit Paul? Schnell aufstehen, Spital anrufen. Wie geht es Paul?

Die Pflegerin beruhigt mich, ich soll mir keine Sorgen machen, ich soll lieber mal richtig ausschlafen und mich ausruhen, ich könne im Moment nichts für ihn tun. Dürfe jederzeit wieder anrufen. Nach dem Frühstück gehe ich wieder ins Bett. Schlafen, mein einziger Gedanke: Ruhe, Ruhe, Ruhe. (Fortsetzung folgt … )