20. Juli 2011 – Der sechste Tag
Eigentlich wollte ich mir einen gemütlichen Nachmittag gönnen. Wie Ferien. Einfach nichts planen, nur Ruhen. Doch gegen drei Uhr erfasst mich eine Unruhe, die Sehnsucht nach Paul! So mache ich mich auf den Weg ins Heim.
Nicht umsonst habe ich dieses Drängen verspürt: Paul erwartet mich schon sehnsüchtig vor dem Lift. Dankbar umarme ich ihn, wie schön, von einem lieben Menschen erwartet zu werden. Ich will die uns noch geschenkten Tage, Stunden, Momente geniessen.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Wir schauen Fotoalben an. Paul erinnert sich der Namen seiner Geschwister, kann heute viel besser sprechen, sucht und findet die Worte wieder, wenn auch oft nur nach längerem Nachdenken.
Beim Nachhause gehen lerne ich im Lift eine andere «Witwe» kennen, Anni. Lange stehen wir auf dem Parkplatz und schütten unser Herz aus. Ihr Mann ist schon seit drei Monaten in derselben Wohngruppe wie Paul. Das Anteilnehmen tut gut, tröstet.
Sie besucht ihren Mann jeden Tag. Das nimmt mir die «Hemmung», dass ich täglich dort aufkreuze. Doch was soll ich machen, wenn es mich zu ihm hinzieht? Ist er nicht mein Ehemann? Wir waren doch 28 Jahre zusammen, ich liebe und vermisse ihn. Und er sehnt sich auch nach mir.
Abends noch ein paar Puppen waschen, flicken, ankleiden. Nun sind es bereits 21, insgesamt werden es bald 579 Puppen sein. Aber warum noch zählen? Es begann damit, dass ich ein paar Weihnachtspäckli für Waisenkinder in Moldawien machen wollte. Ich ersteigerte Puppen, suchte in den Brockenstuben, weitere kamen mit der Sammlung von Hilfsgütern hinzu.
Eigentlich ist es viel Arbeit, einzeln betrachtet, doch die Freude am Schenken trieb mich an. Und nun habe ich wieder Mut und Kraft. Ich nehme das «hingeworfene Handtuch» wieder auf. Sorry fürs Hinwerfen. Aber bei Gott darf man total ehrlich sein. Auch dafür danke ich Dir, das wird schon wieder.
21. Juli 2011 – Der siebte Tag
Ja, mein Herz kann wieder hüpfen vor Freude. Trost floss mir mächtig zu. Einerseits die Freude an meiner Puppenarbeit. Anderseits erfreuen mich auch die Besuche bei Paul. Nur das nachhause kommen bleibt ein fast unverdaulicher Brocken.
Überraschung: Chrigel, ein Nachbar, hat mir die beiden Grasflächen gemäht! Ich bekam Tränen in den Augen. Solche kleine Liebesdienste berühren zutiefst, ermutigen und trösten.
Gestern fragte eine Pflegende, ob ich ihn nach den Ferien wieder nach Hause nehmen werde? Ich ertappte mich, wie ich vor Freude aufhorchte, mein Puls ging schneller, oh, welche Sehnsucht nach der «heilen» Welt? Doch war sie wirklich heil? War es nicht vielmehr zuletzt nur noch ein Kampf, ein Krampf, ein sich mühsam durch die Tage hindurch quälen, ein Ringen danach, irgendwie durchzukommen?
Habe ich wirklich vergessen, wie mühsam der Alltag war, wie gross die Herausforderungen? Wie erschöpft und verzweifelt ich oft war?
Nachmittags fahre ich wieder zu Paul. Es zieht mich zu ihm hin, ob ich will oder nicht. Ich gehe gern. Wie ich mich freue ihn zu sehen! Oh Paul, wie ich mit dir leide. Dieser Schmerz, diese Sehnsucht nach unseren normalen Zeiten, als du im Garten gearbeitet hast, in deiner Bude.
Da kam es nie vor, dass ich Gemüse kaufen musste, da war auch nie ein Gartenzaun defekt. Nun bröckelt der Zaun dahin. Es käme niemand in den Sinn, einmal mit Hammer und Nägel wenigstens die losen Zaunpfähle festzumachen.
Paul sitzt wieder vor dem Lift. Und wie er mich anstrahlt, ja er habe sehnsüchtig auf mich gewartet. Er möchte noch mehr sagen, findet aber die Worte nicht. Er sucht vielleicht nach Erklärungen, warum er hier ist und ich immer weggehe?
Was kann er begreifen, wie verläuft sonst sein Alltag? Wie ergeht es ihm in der Nacht, kann er alles einordnen?
Und immer wieder muss ich weggehen, mich losreissen, ihn verlassen, ohne all seine eingeschlossenen Fragen und Gedanken beantworten zu können. Muss mich aufrappeln um nicht im Meer der Tränen zu ertrinken. Und ich weiss: Ich habe keine andere Wahl.
22. Juli 2011 – Schmerzen
Etwas stimmt heute nicht mit Paul. Er redet wirr durcheinander, ich verstehe ihn nicht, ahne bloss, dass er Schmerzen hat. Es gelingt mir, ihn hinzulegen, endlich finde ich es heraus: Starke Rückenschmerzen! Sofort reagiert eine Pflegende, ruft den Arzt an, Paul bekommt Schmerzmittel. Wie er so hilflos vor mir liegt, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Zuhause nehme ich meine Schreipuppe, um mir den Schmerz von der Seele zu schreien (schreien lassen). Um nicht im Meer der Trauer zu versinken, hole ich noch ein paar Puppen aus dem Lagerhaus. Waschen, frisch einkleiden, frisieren.
Ablenken von der grossen Not, Vertiefen in die Aufgabe, andern Menschen Freude zu bereiten. Ich denke an die strahlenden Augen der Waisenkinder wenn sie eine meiner Puppen im Arm halten. Nun sind es schon 583 Puppen!