Tag der Entscheidung - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (60)

Tag der Entscheidung

Wie sich draussen die Morgendämmerung ziert, sieht es auch in mir aus. Grau in grau. Herr, ich suche deine Weisheit, deine Hilfe, deine Nähe, dein Reden. Ich tappe im Labyrinth und finde den Ausgang nicht. Bild U. Kehrli

Was, wenn in drei Wochen im Heim kein Platz für Paul frei wird? Noch ist jemand vor ihm auf der Warteliste. Es müssten also zwei Menschen sterben. Eine schreckliche Vorstellung, nachdem ich nun die Bewohner kenne. Was dann?

22. August 2011 – Verlockend

Ja, was dann? Ich male mir aus, ihn mit nach Hause zu nehmen. Eventuell mit drei Tagen als Tagesgast in der jetzigen Wohngruppe. Fahrdienst organisieren. Paul könnte wieder abwaschen, Zeitungen bündeln, mir beim Rüsten helfen.

Es wird mir warm ums Herz. Paul wieder neben mir im Bett, am Tisch, ich müsste nicht mehr allein essen. Das Kochen würde sich auch wieder lohnen. Ein Stück heile Welt baut sich in meinem Herzen auf.

Gestern Sonntag kamen wieder Ängste auf wegen der Finanzen. Erschreckend, wie das Vermögen wegen der Heimkosten dahinschmilzt. Viele Sorgengeister begannen mich zu quälen. Raus aus dem Haus! Ich gehe fischen, wie Petrus sagte. Etwas tun.

Ich nehme mir vor, Eier zu holen in Matzenried, und dann? An den Murtensee fahren? Einfach raus. Egal wohin. Wie ich in Riedbach am Haus von Marlene vorbeifahre, sehe ich die offenen Fenster. Es drängt mich nach Gemeinschaft, nach Gebet. Wir beten um gewiss Wissen, ob ich Paul nach Hause nehmen kann. Oder das Zeichen, wenn ein Platz frei wird im Heim.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Es kommt anders. Heute in der Früh telefoniere ich mit der Verantwortlichen Pflege und Betreuung. Bevor ich meine Fragen stellen kann von wegen wie weiter, sagt sie für Paul sei ein Zimmer frei geworden. Gestern Nachmittag sei wieder eine Bewohnerin gestorben, das schöne Eckzimmer werde auf 1. September frei.

Herz gegen Verstand. Ich kann nicht sofort antworten, trotz all der positiven Gründe, die für eine Zusage sprechen. Zu sehr hat sich in mir diese Heile-Welt-Vorstellung aufgebaut. Ich darf bis morgen mit der Antwort zuwarten.

Ein Entscheid über Pauls Kopf hinweg. Ich bestimme über sein Leben. Geschlossene Abteilung. Eingesperrt, lebenslänglich. Mein Herz bäumt sich auf. Der Verstand jedoch bestimmt die Lösung.

Alles geht so nahtlos, wie geschmiert, ich warte noch auf das gewiss Wissen in mir, auf den Trost für mein Herz. Vielleicht muss diesmal der Verstand einfach voraus gehen, das Herz wird später folgen.

Das nie mehr baut sich drohend vor mir auf, das leere Bett neben mir klagt, die Vorstellung, dass meine Zusage morgen das Aus bedeutet für seine Rückkehr, er wird nie mehr im Garten herumgehen, seine Rosen nicht mehr sehen, die Stangenbohnen nicht mehr geniessen, die er so liebte.

Nie mehr. Die Zeit hier ist abgelaufen. Zu Ende. Aus. Das tut unsäglich weh.

Ich bin immer noch dabei zu lernen, wie ich mit diesem Schmerz umgehen soll. Annehmen. Die eigene Vorstellung, die Herzenswünsche ablegen. Neues annehmen. Ertragen. Vertrautes loslassen. Ja sagen lernen zum Ist-Zustand. Annehmen, es ist wie es ist.

23. August 2011 – Tag der Entscheidung

Ich erwache wie immer mit starken Kopfschmerzen. Die Tabletten gestern haben kaum gewirkt. Schon um sechs Frühstück. Immer noch warte ich auf das gewiss Wissen in meinem Herzen. Gott, du bist heute so weit weg. Ich tappe im Dunkeln. Ich kann die Gedanken nicht sammeln, nicht klar erkennen.

Wie draussen die Morgendämmerung sich ziert, sieht es in mir aus. Grau in Grau. Herr, ich suche Deine Weisheit, deine Hilfe, deine Nähe, dein Reden, ich tappe im Labyrinth und finde den Ausgang nicht. Da wird es langsam hell: Ich nehme mein Gebetstagebuch und notiere die Gründe für oder gegen das nach Hause nehmen:

Zwei gute Gründe sprechen dafür

  1. Unsere Sehnsucht, wieder zusammen zu sein, der Wunsch nach heile Welt, weil er doch hierher, zu mir gehört
  2. Kosten sparen

Zehn Gründe, die gegen einen solchen Entscheid sprechen

  1. 24 Stunden Stress, Anspannung rund um die Uhr
  2. Sein Zustand verschlechtert sich, mehr Aufwand in der Pflege
  3. Ständiger Druck, Treiber, nervige Herausforderung, Getrieben sein von aussen
  4. Mein eigenes Alter
  5. Kein Talent zur Pflege
  6. Zu anstrengend, kräfteraubend
  7. Müsste Paul wieder aus der jetzigen Situation herausreissen
  8. Ein grosser Aufwand, ihn hier wieder anzusiedeln, anzugewöhnen, neu zu organisieren
  9. Weglaufgefahr, er gefährdet sich ständig selbst, keine Ruhe nachts, kaum Schlaf
  10. Ich muss mich total aufgeben, ganz ihm zuwenden, alle eigenen Interessen begraben

Ich staune über diese Liste, es fühlt sich genau umgekehrt an: Mir scheint es sprächen zehn Gründe dafür und nur wenige dagegen. Wie gewichtig doch die Herzenswünsche sind gegenüber der Vernunft! Eine  Betreuung rund um die Uhr ist für eine einzelne Person ohnehin zu viel. Allein dieser Grund genügt mir eigentlich für das gewiss Wissen.

Und für Paul wäre es auch nicht gut, hat er doch bereits Wurzeln geschlagen im Heim. Ich würde mich in einen Dauerstress manövrieren, in eine Überbelastung. Klagte ich nicht einst, es sei eine Zumutung in meinem Alter noch so einen Job zu machen? War ich nicht beinahe unter der Last zusammengebrochen und schrie um Hilfe?

Ach, es ist klar: diese angebotene Hilfe ist ein Geschenk. Nun weiss ich es gewiss. Auch wenn dieses nie mehr nach Hause kommen hart zu ertragen ist, es ist die einzig richtige Lösung.

Übrigens, nach welchem Zuhause sehnt er sich eigentlich? Er wollte zuhause ja auch ständig weglaufen, wollte nach Hause.

Nun bin ich befreit von der Qual des wie weiter. Nun habe ich das gewiss Wissen. Nicht auf einem Zettel, geschrieben vom Himmel herab, einfach so, mir ins Herz geschenkt. Obwohl mir der Entscheid Frieden gebracht hat, bedrücken mich Trauer und Schmerz. Er bedeutet ein weiteres Abschiednehmen, ein Scheibchen mehr loslassen lernen.

30. August 2011 – Umzug

Manchmal sehe ich mich als Teller-Jongleur, der auf zehn Stangen gleichzeitig die Teller jongliert. Kaum den letzten auf Touren gedreht, droht der erste wieder zu fallen und ich renne und drehe erneut, damit er oben bleibt. So ergeht es mir. 

Da sind meine wunderschönen Geranien, genüsslich hat eine Raupe die Blätter und Blüten durchlöchert, muss Granulat einhacken. Dann das tägliche Giessen bei dieser Hitze. Die Pflanzenkübel mit den Stauden tränken, ich will sie doch erhalten, ein Bäumchen ist bereits vertrocknet. Paul mochte letztes Jahr schon nicht mehr regelmässig giessen.

Der Garten hält mich schön auf Trab. Was machen mit dem grossen Apfelsegen, der jeden Morgen im hohen Gras liegt? Längst sollte man den Rasen mähen, sprich Wiese, denn Rasen kann man das kniehohe Gras nicht mehr nennen. Dann Birnen auflesen, Zwetschgen ablesen und nun kommen auch die Bohnen.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Welch ein Segen für einen Hobbygärtner. Aber für mich? Eine Last! Wieder eine dieser nicht gewollten und erwünschten Aufgaben. Doch es drängt sich auf, ich will doch nicht alles vertrocknen lassen! Auch hier brauche ich eine Lösung. Und bald ist Winter, muss ich auch noch das Schnee schaufeln übernehmen?

Lichtblick neues Leben: Die elf Bewohner und Bewohnerinnen der Wohngruppe und die Pflegenden sind zu meiner Familie geworden, ebenso die drei Angehörigen-Frauen, Schicksalsgefährtinnen. Gelegentliche Gespräche, wir leiden, fühlen, trauern gemeinsam.

Niemand kann sich vorstellen, welch schweren Weg wir zu gehen haben. Nur wer das gleiche erlebt, kann auch richtig mitfühlen.

So ist mir Anna von Anfang an eine gute Trösterin geworden. Ihr Mann ist schon drei Monate länger im Heim als Paul. Kaum zu glauben: Paul ist nun schon die siebte Woche dort und ingesamt bereits 14 Wochen von zuhause fort.

Langsam gewöhne ich mich ans Alleinsein. Wenn ich in die Wohnung komme, fliessen nicht mehr gleich die Tränen. Kochen für mich allein ist auch schon Routine. Bloss beim Einkaufen muss ich aufpassen, dass ich nicht zu grosse Mengen in den Korb lege.

Gestern durfte ich Paul das neue Zimmer zeigen. Heute ist Umzug. Es hat nicht viel Platz, doch immerhin zwei  Fensterfronten mit wunderbarer Aussicht auf freie Felder, über Bäume hin zum Gurten, selbst ein paar Gipfel der Freiburger Alpen kann man noch erspähen.

Viel freier Himmel. Da kann Paul beobachten, wie die Flugzeuge ihre Streifen ziehen, das mag er doch so gern. Wir werden sein aus Holz gefertigtes Modell einer Super-Constellation aufhängen. Darüber wird er sich sehr freuen. Sicher auch über den Sekretär, den er selbst anfertigt hat. Vertrautes in seinem Zimmer wird ihm helfen, sich zuhause zu fühlen. 

Sein Name steht schon an der Tür. Die Pflegenden sind sehr hilfsbereit und verständnisvoll. Man spürt, dass sie geschult sind, sie verstehen mit dem Herzen, auch uns, die Angehörigen.

Ich weile gern dort, fühle mich angenommen, willkommen, auch schon ein bisschen zuhause. Mein Sohn Andy ist mir wieder eine grosse Hilfe, wird mir die Möbel bringen. So tröstlich. (Fortsetzung folgt …)