Sturzgefährdet - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (49)

Sturzgefährdet

Wie krank ist er wirklich und was ist nur die Folge der krankmachenden Nebenwirkungen? Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass ein Teil seines kranken Zustandes von den Medikamenten herrührt. Ohne sie wäre er bestimmt klarer im Kopf, empfänglicher für Informationen und daher auch weniger aggressiv. Bild U. Kehrli

Heute ist der der Tag, an dem Paul ins Heim muss. Der Tag, vor dem ich mich so sehr gefürchtet habe. Noch vor wenigen Monaten wäre das undenkbar gewesen. Nein, das kann ich ihm nicht antun, niemals! Ich hätte alles getan, ihn davor zu bewahren. Doch eben, es kam anders.

17. Mai 2011 – Wie ein Tsunami

So kommt es mir vor heute beim Erwachen. Gestern nach elf Uhr erst löschte ich das Licht. Die gewonnene Freiheit, die Ruhe, die Entlastung beginnt mich zu belasten. Die Leere, die Stille, alles was ich sonst an einem freien Tag auskostete und genoss, macht jetzt mein Herz schwer.

Ich irre in der Wohnung herum. Weiss nicht was anfangen. So, erst mal Kaffee! Nespresso Maschine anmachen. Dann unter die Dusche, immer gut. Und auch nötig zur Erfrischung, zum Aufwachen. Ursula, bleib auf dem Boden. Auch das schaffst du. Ich liebäugle wieder mit dem Bett. Es ist verlockend unter die Decke zu schlüpfen, mich zu verkriechen.

Das habe ich gestern Nachmittag ausgiebig gemacht. Heute will ich aber Paul besuchen. Ich sehne mich so sehr nach ihm. Aber eigentlich nach meinem Mann A, so wie er einst war, nicht nach Mann B, so wie meistens in letzter Zeit. Eine vertraute Gestalt, aber mit fremdem Inhalt.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Telefoniere mit dem Spital. Wie geht es? Zewi-Decke zerrissen, übers Gitter gestiegen, hat gut Frühstück gegessen. Sie versuchen mit allen Mitteln ihn vor möglichen Gefahren abzuschirmen, sie organisieren sich, damit sie ihn gut betreuen können.

Er ist stark sturzgefährdet. Er benötige eine eins-zu-eins rundum Betreuung, es sei nicht vorstellbar, dass das eine einzelne Person zuhause tun könne. Er müsse nun ein paar Tage bleiben. Es sei nicht daran zu denken, ihn nach Hause zu entlassen.

Und doch fühle ich im Herzen, dass es ihm hier entschieden besser gehen würde. In seiner gewohnten Umgebung, beim Abwaschen, Gemüse rüsten, Tisch decken. Im Garten … er würde doch hier eher wieder zu sich selbst finden!

Ist das eine Illusion? Lebe ich in einer Traumwelt? Verschliesse ich mich immer noch vor der Realität? Der Verstand sagt: Es ist aus, er kann nie mehr zurückkommen. 

Das Herz weint: Doch, ich werde Hilfe organisieren, das werden wir wieder hinkriegen. Er wird sich hier wohl fühlen, es wird ihm sogleich besser gehen. Wie unwürdig, unter einer ZEWI-Decke gefangen zu sein und mit Medikamenten ruhig gestellt zu werden!

Es klingelt. Renate! Nimmt mich in die Arme, sie weiss noch nichts. Sie wurde einfach innerlich geleitet, mich aufzusuchen. Es klingelt gleich wieder: Mein Bruder Martin und Mona. So kann ich gleich beiden den Sachverhalt erklären.

Grosse Betroffenheit. Martin bietet sich an, mich ins Spital zu fahren, auch beim Gespräch mit den Ärzten dabei zu sein. Das macht mir Mut, gibt Kraft. Schon wieder hilfsbereite Engel. Wie dankbar ich bin.

Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Und ausgerechnet heute kommt mit der Post die Antwort der Versicherung: Sie bezahlen die ganze Rechnung für die verpatzten Ferien, keine Zusatzkosten. Schon wieder Grund zur Dankbarkeit.

Wäscheständer aufgestellt. Es ist warm, leicht windig. Die Hose von Paul, die, die er so gerne anzieht, wird gut trocknen. Es schmerzt, all seine Sachen aufgereiht am Ständer zu sehen. Sein Lieblingspullunder, der rote, wollene. Jedes Kleidungsstück verbindet mich mit ihm.

Ich liebe ihn halt doch sehr, mögen die vergangenen Jahre oft auch beschwerlich gewesen sein. Liebe erträgt alles, duldet alles, steht alles durch.

Sie ist gleichwohl da, meine grosse Liebe zu Paul, auch wenn es in letzter Zeit den Anschein machte, der Brunnen sei ausgetrocknet.

Carlo ruft an. Wie er mir denn helfen könne? Er komme sich so hilflos vor, möchte doch so gerne helfen. Er betet wie ein Weltmeister. Eben. So ist Gott: Er sendet Hilfe, bevor wir richtig rufen. Antwort auf Fürbitte, Gebete von Freunden. Es macht Carlo  glücklich, eine Aufgabe, einen Auftrag zu haben. Und der telefonische Austausch. Er ist ja Tag für Tag allein.

Martin und Mona holen mich pünktlich um zwei Uhr ab. Ein paar Kleidungsstücke nehme ich mit, Paul mag den Trainingsanzug nicht, ich bringe ihm lieber eine normale Gehhose. Ein beklemmendes Gefühl überkommt mich, wie ich vor dem Zimmer stehe.

Paul sitzt am Tisch, das Mittagessen noch vor sich, er nimmt kaum Notiz von mir. Ein erbärmlicher Anblick. Die Hose voller Flecken, darüber einfach die Gartenjacke, die er noch vom Transport her dabei hat. Martin begrüsst er freundlich, mich ignoriert er.

Ein Arzt kommt, will sich an den Tisch von Paul setzen noch während er isst. Ich winke ab. Zu viel Unruhe für Paul. Wir gehen in den Korridor. Er stellt mir viele Fragen. Es zeige sich, dass Pauls Zustand sehr schlecht sei.

Der Arzt rät mir, mit der Sozialfürsorgerin Kontakt aufzunehmen. Pauls Demenz sei nicht nur eine mittlere, sondern eine sehr schwere.

Wieder Beklemmung im Herzen. Ärger, Wut, Ungeduld. Heftige Verzweiflung wandelt sich in Trauer. Grosse, lähmende Trauer, alles tut weh. Es schmerzt, dass unser Zusammenleben die letzten Monate so schwierig war, keine Zärtlichkeiten, keine Gespräche, bloss ab und zu der Gute-Nacht-Kuss.

Immer wieder rollen Tränen über meine Wangen, noch auf dem Nachhauseweg kann ich mich kaum fassen. Nachbarin Katja läutet. Sie hatte die Ambulanz gesehen, nun fragt sie nach, wie es geht. Sie nimmt mich in den Arm.

Auch Carlo ruft an, leidet mit, nimmt Anteil. Auch Nelly meldet sich, sie wusste noch von gar nichts. Wie gut, Freunde zu haben. Morgen werde ich mit Erika aufs Stockhorn gehen, ich muss einfach raus. Etwas Schönes sehen, die Berge geniessen, die Aussicht, draussen essen, mich mit andere Gedanken füllen.

18. Mai 2011 – Aufs Stockhorn

Heute ist mein freier Tag, gehe mit Erika aufs Stockhorn, das haben wir schon vor Wochen geplant. Wunderbar klare Sicht, fast wolkenlos beginnt der Tag. Was mir früher mein freier Tag bedeutete – grosses Aufatmen, Lasten abwerfen, zielstrebig, voller Lebenslust und Freude unterwegs – da muss ich mich heute aufraffen, aufrappeln.

Es ist vorerst nur ein Funktionieren. Frühstück, ein kleiner Imbiss, dann los! Wie ein schwerer Rucksack lastet eine bleierne Traurigkeit auf mir, die ich nicht einfach abwerfen kann. Trauer bessert das Herz, diesen Spruch las ich bei Salomon. Soll ich es also zulassen, an mir wirken lassen?

Gestern Abend hat mir der Mieter Christian die Hängematte montiert. Ein Highlight des gestrigen, traurigen Tages. Nun hängen an meinem schweren Rucksack ein paar Luftballons, gefüllt mit Dankbarkeit für alles, was mein Herz dennoch erquickt.

Die kleinen Freuden dennoch sehen und dafür dankbar sein, das mindert die Schwere. Alles wird erträglicher.

Vor ein paar Tagen hörte ich eine Stimme in mir: Paul wird stürzen. Ist das der Anfang vom Ende? Es wird im Spital wohl nicht zu vermeiden sein. Dauernd ist dort die Rede von sturzgefährdet. Immer wieder bin ich in Gedanken bei Paul, auch wenn mich der Ausblick vom Stockhorn begeistert.

Auf dem Gipfel geniessen wir unsere Brötchen, Salatblätter, Gurken und etwas Fleisch, das Erika mitgebracht hat. Beim See beten wir inniglich um Erbarmen, es zerreisst mir fast das Herz, dass ich über seinen Willen hinweg entscheiden muss. Wie damals bei Mutter.

Da läutet das Handy. Mein Sohn Andy war eine Stunde bei Paul, sein Zustand habe ihn schockiert. Zuhause schüttelt es mich durch. Das Elend, die Not, die Tatsache, nun allein zu sein, übermannt mich. Da, Anruf von Carlo. Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Schwere all der anstehenden Entscheidungen platzt über mir wie ein überdehnter Ballon.

Dennoch rapple ich mich auf, gehe in den Garten, um den Rosenstock zu befreien, der vor lauter Unkraut und verwelkten Tulpen zu ersticken droht. Ich jäte, giesse, dünge, da kommt eine Nachbarin, wir plaudern. Das tut gut, ich kann mich wieder beruhigen. Am liebsten wäre ich zu Paul gerannt.

Alles in mir zieht mich zu ihm hin. Nun ist der ständige Druck weg und ich vermisse ihn sehr. Ob in meinem Herzen wieder das Bild des wahren Pauls Oberhand gewinnt? Vergesse ich, wie dieser verwirrte Mann ständig an meinen Nerven zerrte?

Ein grosser Schmerz ist in mir. Nun gilt es zusätzlich zu den anstrengenden Herausforderungen im Alltag, auch den Schmerz, Paul nicht mehr zu haben, auszuhalten.

19. Mai 2011 – Niagara-Trauer-Fall

Nachdem ich mal kurz den Niagara-Trauer-Fall stoppen konnte, habe ich mich aufgemacht in den Garten und habe gejätet. Wut gegen das üppige Unkraut und Ehre dem, was Paul noch pflanzen konnte. Und die Blumen haben Durst. Nun ist es halb neun.

Morgen Nachmittag habe ich ein Gespräch mit der Sozialhelferin. So, wie es aussieht, wird es wahrscheinlich nicht mehr gehen zuhause. Obwohl die Hoffnung zuletzt stirbt, glaube ich nicht mehr wirklich daran. Sie reden zwar – wohl um mich zu trösten – nur von einem Ferienbett.

Vielleicht sei der Gedanke an ein Heim nicht nur negativ, ich könne ihn regelmässig besuchen und wir würden es besser haben, werde ich ermutigt. Ich hoffe, sie werden ihm noch etwas Zeit lassen im Lory Spital. Der Arzt sagte, das Ferienbett könne man eher – falls es besser gehen sollte – abbestellen, als subito eines aufzutreiben.

Werde am Nachmittag zu Paul gehen, dann eine halbe Stunde später zum Gespräch. Ich denke ans Pflegeheim Kühlewil. Die Demenzabteilung im neuen Trakt sei super, sagt Erika, die dort arbeitet.

Es liegen Berge vor mir. Entscheidungen. Beschlüsse, die ich alle hinter Pauls Rücken zu fassen habe. Es ist unmöglich, ihn dabei miteinzubeziehen.

Er ist in einer andern Welt. Weit weg von uns. Versteht uns nicht mehr. Und wir ihn nicht. Ich muss nun Wege gehen, die ich nicht begehen möchte, Angst beschleicht mich. Das Gespräch ist mir zuwider. Immer wieder bin ich den Tränen nah, wenn es um Pauls Schicksal geht. Ich stehe wie neben mir, schaue zu, was abläuft. Es ist nur Trauer und Schmerz in mir.

21. Mai 2011 – Temesta, Temesta

Paul wird – verständlicherweise – dauernd mit Temesta und anderen Chemiekalien gebändigt, das ist sehr, sehr traurig … In meinem Herzen entsteht der Wunsch, ihn rauszuholen, ihn hierher zurückzubringen, eine 5-Tage-Betreuung privat zu organisieren.

Dann hätte ich nur noch die Nächte. Ihn mit Temesta zu dämpfen, ruhig zu stellen, das könnte ich zuhause schliesslich auch. Und jetzt hat er einen Katheter … das stete ich-muss-auf-die-Toilette-gehen wird so elegant gelöst.

Doch die Vernunft redet anders. Wahrscheinlich ist es jetzt halt soweit.

Adé Paul. Du versinkst im Meer der Chemie, auch mit dem Restchen, das eben noch du, der Paul war. Das schmerzt mich am meisten.

Einmal mehr muss ich hilflos zusehen, zulassen, wie er weiter ins Uferlose versinkt.

Gestern ging ich mit Paul im Rollstuhl hinaus, drehte ein paar Runden ums Anna-Seiler-Haus, das hat ihm gut getan. Er hat klar gesagt: Noch eine Runde! Es hat ihm gefallen. Rollstuhl schieben kann recht anstrengend sein, aber es macht Freude, draussen ungestört mit ihm allein zu sein.

Gestern habe ich auch mitbekommen, was das für anstrengende Kämpfe sind. Er ist dauernd in Bewegung, geht in den Korridor hinaus, in andere Krankenzimmer, ins Stationsbüro, will zum Lift, zur Ausgangstüre. Längst hat er den versteckten Knopf entdeckt, die die Tür öffnet. Tiefes Durchatmen, wenn er endlich mit Temesta vor sich hin döst. Von meinem Mann A ist kaum mehr etwas da.

Heute gehe ich zu ihm Mittagessen. Das habe ich vorbestellt. Mal schauen, wie das mit dem Essen geht.

Es war ein gutes Gespräch mit der Sozialarbeiterin und einer Sitzwache, die zwischen 16 und 22 Uhr bei ihm ist. Zwei Matratzen sind am Boden. Eine für Paul, die andere für die Wache.

Die Zewi Decke wird nicht mehr verwendet. Auch die Gitter am Bett sind zwecklos, er übersteigt sie und gefährdet sich damit selbst. Jetzt muss er auf dem Boden schlafen, mit dem künstlichen Kniegelenk, und dem anderen Knie, das total lädiert ist. Armer Paul!

Das Heim für Demenzkranke in Oberried Belp sei ständig ausgebucht, keine Chance, scheinbar. Werde nun das Pflegeheim Kühlewil besichtigen, Fränzi kommt mit. Bin so dankbar für ihre Unterstützung.

26. Mai 2011 – Ende und Anfang

Ich kann nicht mehr… und dennoch kann ich, muss ich. Ich mag nicht mehr … und dennoch geht es weiter. Schlag auf Schlag. Besichtigung in K., nein, wir sind uns einig. Fränzi hat auch kein Ja dazu. Die Suche nach einem geeigneten Heim geht weiter.

Weitere Vorschläge der Sozialarbeiterin: In N., bloss zehn Autominuten von hier. Nicht zu gross, mit einem Garten, angelegt für demente Menschen. Auslauf, etwas Freiheit. Besprechung mit dem Heimleiter, Marlene kommt mit. Besichtigung, ja, sieht gut aus, gutes Bauchgefühl, freundlich werden wir durchs Heim geleitet. Dann Ausfüllen der Formulare, Fragen beantworten, ins leere Zuhause zurück, weinen.

Aufwachen, weinen. Nein, ich lasse mich nicht gehen. Ich heule nicht, es fliessen einfach die Tränen, ob ich will oder nicht.

Der Stausee ist übervoll, gut, wenn man da Wasser ablässt, sonst bricht die Mauer, damit ist niemand geholfen. Und ich will nicht einbrechen. Stossgebet, Hilfe! Verlass mich nicht, mein Gott.

Heute wird Paul vom Lory Spital ins Heim überführt. Mit der Ambulanz. Ich werde nach N. fahren und ihn dort empfangen. Gestern hat Andy geholfen, den Lehnsessel, die Kleider, den Teddy ins Zimmer zu bringen. Ein Doppelzimmer. Was kann ich dagegen sagen? Habe ich eine andere Lösung? Unmöglich, ihn nach Hause zu nehmen. Ich muss mich fügen. Habe keine andere Wahl.

Es ist fast nicht zum Aushalten. Es ist erst halb acht Uhr. Nach dem Frühstück bin ich wieder angekleidet unter die Decke geschlüpft. Suche Geborgenheit. Ich habe keine Schulter um mich auszuweinen. Oh, Carlo würde sich liebend gerne dazu anbieten. Das ist keine Lösung, keine Hilfe. Das würde nur neue Probleme schaffen.

So lerne, übe ich, mich an Dich Herr Jesus, anzulehnen. Rede hier übers Netbuckli mit Dir. Das fällt mir leichter, als einfach Hände falten und zu beten. Ok?

Heute ist der 26. Mai, der Tag, an dem Paul ins Heim muss. Noch vor ein paar Monaten ein Gedanke, der mich völlig erdrückte. Undenkbar! Nein, das kann ich ihm doch nicht antun! Tränen! Angst! Panik! Niemals! Ich würde alles tun, ihn davor zu bewahren. Mit Unterstützung würde es mir doch gelingen, ihn zu Hause zu pflegen. Doch eben, es kam anders.

Heute ist der Tag, vor dem ich mich so sehr gefürchtet habe. Er steht noch wie eine schwarze Wand vor mir. Am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und den ganzen Tag so verharren, bis er vorüber ist. Ich verstehe den Vogel Strauss. Aber eben, ich bin eine starke Frau, das sagte mir Carlo immer wieder. Ich will es glauben.

Ich ertrage den Gedanken kaum. Sein Herumirren im Nirgendwo, auf der Suche nach Etwas. Ich kann das nicht alleine tragen, oh Gott!

Liebes Netbuckli, hättest du gesehen, wie tapfer ich nach N. fuhr. Die Ambulanz war eben angekommen. Wärst du dabei gewesen, als ich von dort drei Stunden später wieder heimwärts fuhr. Tränen verkneifend, mit schmerzendem Herzen. Fast nicht auszuhalten. Nur schnell heim, und kaum in der Wohnung, brach der Damm. Das Wasser schwappte über.

Ich musste Paul verlassen, er konnte zeitweilig kaum mehr auf den Beinen stehen vor Müdigkeit, dennoch versuchte er immer wieder vom Essen aufzustehen, schwankte Richtung Tür. Immer und überall suchte er nach Fluchtmöglichkeiten.

Sogar im «sicheren» Garten inspizierte er die Löffelmauer, ja, ich las es in seinem Gesicht, da werde ich rauf klettern. Eine Kleinigkeit für einen Berginfanteristen, der er im Herzen immer noch ist.

War es falsch, mit ihm gemeinsam das Mittagessen einzunehmen? Er nahm, kaum hatte er die Suppe fertig gelöffelt, wieder die blaue Tasche vom Inselspital, den Stock und wollte hinaus. Nur weg von hier! Dasselbe nach dem Salat, ich konnte ihn kaum bewegen, sich wieder an den Tisch zu setzen.

Beim Aufstehen knickte er ein, ein Rollstuhl wäre besser, Paul ist geschwächt von all den Medikamenten. Doch dem Rollstuhl ist nicht zu trauen, er weigert sich, denn der ist verdächtig … Er weiss, damit drängt man ihm einen fremden Willen auf. Er will nun mal nicht hier bleiben.

Er hat Lunte gerochen. Alte Krieger kann man nicht täuschen. Er wehrt sich, doch die Kräfte erlauben es ihm nicht. Mit Chemie ausser Gefecht gesetzt. Gemein.

Dann im Zimmer, Paul geht zum Lavabo, möchte den Mund spülen, wie immer, die Spange herausnehmen. Der stämmige Pfleger, Rausschmeisser-Typ, hat keine Geduld. Paul soll sich hinlegen. Es gibt einen Ringkampf.

Keine frauliche Zartheit, kein Bitten, da gibt es nur Befehle und der Typ hat Kraft, viel Kraft. Endlich hat er ihn auf das Bett gezwängt, mit Gewalt. Bin schon viele Jahre hier, ich werde mit jedem fertig. Hilflos, ohnmächtig, geschockt sehe ich, wie sich Paul wehrt, chancenlos. Ich kann ihnl in seiner grossen Verzweiflung auch nicht beruhigen.

Eine Pflegerin kommt herein. Das wird schon, besser Sie gehen jetzt, er wird sich bald beruhigen. Verzweifelt gehe ich hinaus, was soll ich tun? Was läuft hier ab? Da höre ich von der Treppe aus einen Schrei der Verzweiflung, die Stimme eines Ertrinkenden: Ursulaaaaaah! Hat er mich doch erkannt? Es bricht mir fast das Herz.

Ein Hilferuf – ich höre ihn zwar, doch kann ich nicht helfen. Wie gelähmt, unsicher bleibe ich stehen. Loslassen? Muss ich ihn so loslassen? Gehört das dazu? Ihn verlassen in dieser Hilflosigkeit?

Wie gerne möchte ich ihn wieder nach Hause nehmen, ihm seinen gewohnten Lebensraum schenken. Doch ich kann es nicht. Vermag es nicht.

Es würde ihm auch nicht helfen. Auch zuhause ist er immer wieder unruhig gewesen, weggelaufen, auf der Such nach Irgendwo. Aber, muss man mit dementen Menschen so umgehen? Mit Gewalt? Ich bin verzweifelt, gehe dennoch, was soll ich tun?

Zuhause angekommen, überkommt mich das Elend, heftiges Weinen schüttelt mich, der Schmerz zu gross in meinem Herzen. Das war alles zu viel. Immer wieder kommt die Frage: Wie würde er hier zu Hause reagieren? Soll ich ihn doch holen? Was geht in ihm vor?

Wie krank ist er wirklich und was ist nur die Folge der krankmachenden Auswirkungen von Medikamenten? Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass ein Teil seines kranken Zustandes von Medikamenten herrührt. Ohne wäre er bestimmt klarer im Kopf, empfänglicher für Informationen und daher auch weniger aggressiv.

Wie hat mich das harte Anfassen des kalt wirkenden Pflegers geschockt. Das ansehen zu müssen hat in mir Betroffenheit und Schmerz ausgelöst. Der hat sich vorher beim Ankündigen des Mittagessens nicht einmal vorgestellt, uns nicht begrüsst. Uns nur angeherrscht, das Essen sei längst serviert, vorwurfsvoll, fast rüpelhaft. Wie viel hat er mit dem Leitbild des Hauses zu tun?

Immer wieder sehe ich das Bild von Pauls Hilflosigkeit vor Augen. Und ich kann nichts dagegen tun! Ich muss damit leben. Muss mir immer wieder sagen: Es ist sein Schicksal. Dieses Ausgeliefertsein an Menschen, denen man nichts oder wenig bedeutet. Gegen den eigenen Willen.

Was kann ich tun? Kyrie Eleison. Was bleibt mir? Ich muss ihn loslassen. Ein grosser Schmerz der mich fast zerreisst. Ich bin hier zuhause, was mir jetzt nicht mehr viel bedeutet. Wie gerne würde ich einfach ausbrechen. Aber wohin? Ich weiss es nicht.

Sehnsucht nach einem Ort der Ruhe, wo meine Seele endlich wieder entspannen darf, nicht dauernd hilfeschreiend hinter mir herjagt und mich mahnt, dass sie nicht mithalten kann. Ich vertröste sie. Ich habe sie nicht vergessen, meine Seele.

Herr, du sorgst für mich. Danke, dass du auch Paul liebevoll in die Arme nimmst und ihn beschützt, tröstest und versorgst. (Fortsetzung folgt … )