7. Oktober 2010 – Manna
Eine Freundin im Pflegeberuf sagte kürzlich, dass sie staune, wie ich unseren Alltag bewältige. Sie könnte das nicht, sie hätte jeweils schon nach kurzer Zeit keine Geduld mehr mit den dementen Bewohnern. Ich muss mich halt in Geduld üben, es geht nicht anders.
Heute schrieb ich in mein Gebetstagebuch:
Je grösser das Problem, die Not, desto mächtiger ist die Gnade, die ich empfangen darf. Je ohnmächtiger ich mich in einer Situation fühle, hilflos, machtlos, um so mehr Kraft aus Gottes Brünnlein – das die Fülle hat – darf ich erwarten. Wie das täglich neue Manna, das Himmelsbrot deinem Volk in der Wüste geschenkt wurde, bekomme auch ich täglich himmlische Nahrung.
Letzte Nacht hatte Paul Probleme. Er versucht mir zu erklären, was passiert ist. Das Pyjama habe er aus- und das Hemd angezogen. Nach und nach erfahre ich, dass er von früher geträumt hat. Auch ging es wieder ums Hosen nässen, die Einlage wechseln, sie unter dem Bett verstecken und das feuchte Pyjama in der Stube über den Stuhl legen.
Und ich habe selig geschlafen. Das ist ab und zu wichtig, wenn ich durchhalten will. Loslassen, vertrauen.
Unser Pfarrer hat sich angemeldet. Eine Wohltat, so ein Besuch. Ich hatte ihn gebeten zu kommen. Der Pfarrer spricht nicht über den Kopf von Paul hinweg, sondern wendet sich direkt an ihn, lässt ihm Zeit und wartet seine Antworten ab. Ich war diesmal dabei, Paul ist meistens froh, wenn er bei mir nachfragen kann oder ich ihm helfe ein Wort zu finden.
Gestern Abend habe ich noch Kuchen gebacken, wollte den Pfarrer doch verwöhnen. Es reicht auch noch für ein Zvieri für Hans, der nach den Gartenarbeiten gerne Kaffee und Kuchen nimmt.
Es ist schön, Freude zu bereiten und heute Abend geht es mir gut, ich habe mein Gleichgewicht wieder gefunden. Gestern hatte ich ja meinen Ruhetag. Welch eine Kraftquelle! Und konnte endlich einmal durchschlafen!
13. Oktober 2010 – Im Nebel
Heute weckte mich Paul schon um halb sechs. Bereits angezogen, suchte er den Wohnungsschlüssel. Er regte sich sehr auf, weil ich ihm den Schlüssel nicht gab. Und ich regte mich auf, weil ich so früh geweckt wurde.
Um halb sieben Frühstück, ich konnte ohnehin nicht mehr einschlafen. Paul kam mürrisch in die Küche. Wortkarg bereitete er sich vor fürs Tagesheim. Beim Abschied sagte er:
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
«Du muesch nid verruckt sy, weisch ja, dass i verruckt bi» (Du musst Dich nicht ärgern über mich, du weisst ja, dass ich verrückt bin).
Er hatte Mühe, die Worte zu finden. Ich verstand ihn. Und ich erkannte, dass er ab und zu noch erfasst, was um ihn geht, wie es um ihn steht. Was für Worte! Worte der Erkenntnis. Und wie weh sie tun! Wie muss es in ihm aussehen, wenn er seinen Zustand erkennt?
Erika wollte mit mir hinauf in die Berge. Ich winkte ab. Bin zu müde, schon allein das Vorbereiten belastet mich. Was anziehen, was mitnehmen, Picknick? – alles ist zur Last geworden.
Auch zu Katrin mag ich nicht, ich bitte sie am Telefon, mit mir zu beten. Schliesslich überwinde ich mich nach dem Mittagessen, will doch noch Paul den Leim für sein Puzzle kaufen gehen.
Sich aufmachen hat sich gelohnt. Es ist noch ein guter Tag geworden. Zuerst mühsam, hat ärgerlich begonnen, dann bin ich beinahe in eine depressive Verstimmung versunken. Habe mich überwunden und bin rausgekrochen. Sogar Freude empfinde ich. Na also, geht doch.
Jetzt freue mich sogar wieder auf Pauls Rückkehr, erwarte ihn mit einem feinen Zvieri. Das Nachtessen ist auch schon vorbereitet. Einerseits brauche ich den Ruhetag, anderseits bin doch froh, wenn Paul wieder da ist. Kann nicht ganz abschalten mit der Sorge, was macht er, wie geht es ihm?
14. Oktober 2010 – Biskuitroulade
Es war weise, gestern einen Ruhetag einzuschalten. Heute geht es mir gut und ich freue mich auf Sohn Andys Besuch, es gibt Kalbsbraten und meinen berühmt-berüchtigten Zucchetti-Gratin. Warum berühmt-berüchtigt?
Weil ich ihn so sehr liebe und Andy ihn bestimmt schon das dritte Mal in diesem Jahr vorgesetzt bekommt. Von Freunden kriege ich immer wieder mal eine Riesenzucchetti geschenkt – die füllt jeweils die grosse Gratinform. Einmal Kochen, drei Mal essen. Praktisch!
Am Nachmittag kommt Hans im Garten arbeiten. Inzwischen gehe ich zu Kathrin Birnen und Äpfel bringen. Nun ist die Verteilung gemacht, die restlichen Birnen ruhen im Kühlschrank und sind noch schön grün.