Selbstvorwürfe drehen mich im Kreis - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (30)

Selbstvorwürfe drehen mich im Kreis

Wortkarg bereitete sich Paul fürs Tagesheim vor. Zum Abschied sagte er: «Du musst Dich nicht ärgern über mich, du weisst ja, dass ich verrückt bin». Er hatte Mühe, die Worte zu finden. Bild U. Kehrli

Frau Kehrli übt sich täglich in der Kunst, sich mit dem zufrieden zu geben, was sie hat und sie ist für alles dankbar, das noch einigermassen rund läuft.

7. Oktober 2010 – Manna

Eine Freundin im Pflegeberuf sagte kürzlich, dass sie staune, wie ich unseren Alltag bewältige. Sie könnte das nicht, sie hätte jeweils schon nach kurzer Zeit keine Geduld mehr mit den dementen Bewohnern. Ich muss mich halt in Geduld üben, es geht nicht anders.

Heute schrieb ich in mein Gebetstagebuch:

Je grösser das Problem, die Not, desto mächtiger ist die Gnade, die ich empfangen darf. Je ohnmächtiger ich mich in einer Situation fühle, hilflos, machtlos, um so mehr Kraft aus Gottes Brünnlein – das die Fülle hat – darf ich erwarten. Wie das täglich neue Manna, das Himmelsbrot deinem Volk in der Wüste geschenkt wurde, bekomme auch ich täglich himmlische Nahrung.

Letzte Nacht hatte Paul Probleme. Er versucht mir zu erklären, was passiert ist. Das Pyjama habe er aus- und das Hemd angezogen. Nach und nach erfahre ich, dass er von früher geträumt hat. Auch ging es wieder ums Hosen nässen, die Einlage wechseln, sie unter dem Bett verstecken und das feuchte Pyjama in der Stube über den Stuhl legen.

Und ich habe selig geschlafen. Das ist ab und zu wichtig, wenn ich durchhalten will. Loslassen, vertrauen.

Unser Pfarrer hat sich angemeldet. Eine Wohltat, so ein Besuch. Ich hatte ihn gebeten zu kommen. Der Pfarrer spricht nicht über den Kopf von Paul hinweg, sondern wendet sich direkt an ihn, lässt ihm Zeit und wartet seine Antworten ab. Ich war diesmal dabei, Paul ist meistens froh, wenn er bei mir nachfragen kann oder ich ihm helfe ein Wort zu finden.

Gestern Abend habe ich noch Kuchen gebacken, wollte den Pfarrer doch verwöhnen. Es reicht auch noch für ein Zvieri für Hans, der nach den Gartenarbeiten gerne Kaffee und Kuchen nimmt.

Es ist schön, Freude zu bereiten und heute Abend geht es mir gut, ich habe mein Gleichgewicht wieder gefunden. Gestern hatte ich ja meinen Ruhetag. Welch eine Kraftquelle! Und konnte endlich einmal durchschlafen!

13. Oktober 2010 – Im Nebel

Heute weckte mich Paul schon um halb sechs. Bereits angezogen, suchte er den Wohnungsschlüssel. Er regte sich sehr auf, weil ich ihm den Schlüssel nicht gab. Und ich regte mich auf, weil ich so früh geweckt wurde.

Um halb sieben Frühstück, ich konnte ohnehin nicht mehr einschlafen. Paul kam mürrisch in die Küche. Wortkarg bereitete er sich vor fürs Tagesheim. Beim Abschied sagte er:

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

«Du muesch nid verruckt sy, weisch ja, dass i verruckt bi» (Du musst Dich nicht ärgern über mich, du weisst ja, dass ich verrückt bin).

Er hatte Mühe, die Worte zu finden. Ich verstand ihn. Und ich erkannte, dass er ab und zu noch erfasst, was um ihn geht, wie es um ihn steht. Was für Worte! Worte der Erkenntnis. Und wie weh sie tun! Wie muss es in ihm aussehen, wenn er seinen Zustand erkennt?

Erika wollte mit mir hinauf in die Berge. Ich winkte ab. Bin zu müde, schon allein das Vorbereiten belastet mich. Was anziehen, was mitnehmen, Picknick? – alles ist zur Last geworden.

Auch zu Katrin mag ich nicht, ich bitte sie am Telefon, mit mir zu beten. Schliesslich überwinde ich mich nach dem Mittagessen, will doch noch Paul den Leim für sein Puzzle kaufen gehen.

Sich aufmachen hat sich gelohnt. Es ist noch ein guter Tag geworden. Zuerst mühsam, hat ärgerlich begonnen, dann bin ich beinahe in eine depressive Verstimmung versunken. Habe mich überwunden und bin rausgekrochen. Sogar Freude empfinde ich. Na also, geht doch.

Jetzt freue mich sogar wieder auf Pauls Rückkehr, erwarte ihn mit einem feinen Zvieri. Das Nachtessen ist auch schon vorbereitet. Einerseits brauche ich den Ruhetag, anderseits bin doch froh, wenn Paul wieder da ist. Kann nicht ganz abschalten mit der Sorge, was macht er, wie geht es ihm?

14. Oktober 2010 – Biskuitroulade

Es war weise, gestern einen Ruhetag einzuschalten. Heute geht es mir gut und ich freue mich auf Sohn Andys Besuch, es gibt Kalbsbraten und meinen berühmt-berüchtigten Zucchetti-Gratin. Warum berühmt-berüchtigt?

Weil ich ihn so sehr liebe und Andy ihn bestimmt schon das dritte Mal in diesem Jahr vorgesetzt bekommt. Von Freunden kriege ich immer wieder mal eine Riesenzucchetti geschenkt – die füllt jeweils die grosse Gratinform. Einmal Kochen, drei Mal essen. Praktisch!

Am Nachmittag kommt Hans im Garten arbeiten. Inzwischen gehe ich zu Kathrin Birnen und Äpfel bringen. Nun ist die Verteilung gemacht, die restlichen Birnen ruhen im Kühlschrank und sind noch schön grün.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Es geht mir sogar so gut, dass ich fürs Zvieri schnell, – wirklich schnell, ich brauche nicht mal 30 Minuten dafür –, eine Biskuitroulade mache. Hans mag Süsses und ich kann ihm für seine Frau ein Mitbringsel mitgeben.

Einmal bin ich heute doch noch ausgerastet: Fürsorglich lege ich Paul fürs Mittagessen sein Medikamentenschächtelchen an seinen Platz im Esszimmer. Er regt sich auf, reklamiert, schnauzt mich an und geht damit wieder in die Küche.

Ich frage mich, warum ich deswegen so auf die Palme ging? Ja, ich wollte ihm etwas zuliebe tun, und er hat sich über mich geärgert. Dieses «nichts-recht-machen-können», immer und immer wieder, zerrt an den Nerven.

Es ist auch dieses «nie-wissen-woran-man ist», diese dauernde Anspannung, dieses ständig unter Strom sein, was kommt als nächstes? Seufz!

16. Oktober 2010 – Sich zufrieden geben

Das ist eine Kunst, mit dem, was ist und mit was man hat, zufrieden zu sein. Ich übe es, bin dankbar für alles, was doch noch rund läuft.

Früh morgens in die Apotheke nach Köniz fahren, anschliessend Einkauf. Ich gebe Paul den Chip für das Wägelchen, gehe noch kurz in die Garage zurück, habe die zweite Einkaufstasche vergessen. Inzwischen hat Paul den Einkaufswagen irgendwo stehen lassen. Weg ist er! Da hat ihm jemand den Wagen weggeschnappt. Riesenaufregung. Versuche zu besänftigen, es war ja bloss ein Chip …

Ich freue mich heute über meine innere Ruhe. Paul ordnet im Einkaufswagen alles dauernd um, was ich reinlege und gibt mir vorwurfsvoll Anweisungen, wo ich die Ware hinzulegen habe. Sogar sein umständliches Einpacken an der Kasse kann ich gelassen hinnehmen.

Frau Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Zuhause lässt er mich in Ruhe alles auspacken und einräumen. Doch da kommt er aus dem Keller mit Äpfeln, die «unbedingt» zu rüsten seien. Dabei schimpft er, dass sich niemand um den Verkauf der Äpfel kümmere und sie im Keller verfaulten.

Ich mag mir das nicht mehr anhören. Ich sagte ja, die Lagerung im Keller sei zu warm, die Bauern lagern das Obst auch draussen! Aber er wollte sie unbedingt im Keller haben! Gereizt und verärgert gehe ich in mein Zimmer und spiele am PC Patience. Zur Beruhigung.

Dann koche ich Apfelmus und ärgere mich über mein Ärgerlich sein. Sooo blööd. Warum nur kann ich mich nicht besser im Zaum halten?

Ich will mich ja nicht ärgern, ich will doch lieb und geduldig sein, doch es gelingt eben nicht. Oder nicht immer.

Und wenn es nicht gelingt, scheint es mir, als ob es nie gelänge. Es hilft mir, dieses Tagebuch über meinen Ärger zu führen. Ich stelle dabei fest, dass diese Ausrutscher eben doch nicht «immer» vorkommen. Ich bin dankbar für all die guten Tage, sie sind doch noch in der Mehrzahl. Das «immer» und das «nie» sage ich zu Unrecht! Alles halb so schlimm bei genauem Hinsehen.

17. Oktober 2010 – Sehnsucht

Sonntagmorgen erwache ich früh, mein Herz tut weh. Es klemmt. Paul steht auf, verwirrt, das verräterische plötzliche Einatmen, die Zuckungen – die Folgen einer entsprechende Wetterlage, Tiefdruck, Bise, was weiss ich.

Er will irgendwo hin, sucht die Sonntagskleidung, ich kann ihn beruhigen, wir haben heute Vormittag keine Pläne. Heute fällt der Gottesdienst aus. Er macht Frühstück, ich bin unter der Dusche. Doch kein herrlicher Kaffeeduft aus der Küche, keine blubbernden Geräusche von der Kaffeemaschine! Was ist los?

Doch, sie ist auf ON, aber aha, wahrscheinlich kein Wasser drin. Pulver OK, aber statt Wasser im Tank ist es in der Thermosflasche. Paul ist konsterniert, dass ihm das passieren musste. Seine Zuckungen nehmen zu, ich reiche ihm sogleich ein Rivotril. Er regt sich masslos auf, ich versuche ihn zu beruhigen.

In mir ist Leere. Ein Vakuum, Sehnsucht nach Liebe. Nach Beziehung. Nach Gemeinschaft, nach Austausch von Gedanken.

Und da sind auch die Selbstvorwürfe über mein Verhalten gestern, ich habe den Tag oft auf der Palme verbracht.

Mein Verstand schüttelt den Kopf über diese Reaktion. «Du weisst doch, er kann nichts dafür. Es ist die Krankheit, nicht mein Paul! Wozu sich aufregen über diese Kleinigkeiten, über Dinge, die du nicht ändern kannst? Über seine Sturheit, auch Folge der Krankheit. Er braucht doch meine Nähe und Liebe, nicht Vorwürfe». 

Mit Selbstvorwürfen drehe ich mich im Kreis, mache alles noch schlimmer, auch da, es nützt doch nichts! Einmal mehr kapituliere ich, habe versagt. Den gestrigen Tag möglichst schnell abhaken. Heute neu beginnen, die Gnade Gottes mit Dank annehmen, er radiert dies alles aus. Die Scherben versenkt er im tiefsten Meer. Delete-Taste drücken. Das befreit.

Mir fehlt das Gegenüber, ich vermisse Paul, meinen Paul, ich habe Sehnsucht nach meinem Mann, wie er einmal war. Alles ist so anders geworden, mühsam, herausfordernd. Und ich fühle mich allein. Wie vermisse ich unsere Gespräche, den Austausch der Gedanken, das Anteilnehmen am Leben des andern. Wie soll das noch werden? (Fortsetzung folgt … )