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Das Tagebuch (90)

Seine Seele bräuchte Hilfe

Armer Paul. Immer noch sehe ich ihn als meinen vertrauten Paul. Meistens suche ich umsonst. Mal ein paar Minuten erahne ich ihn noch. Es will nicht in meinen Kopf hinein, noch weniger ins Herz, dass er nicht mehr präsent ist.

17. Januar 2013 – Buseli

Paul strahlt mich an, der Blick ist klar, lieb sagt er laut und deutlich, zwei Mal: »Buseli, Buseli«. Ich umarme ihn, er erwidert die Herzlichkeit, drückt mir ein paar Küsse auf die Wange. Wie gut tut diese Begegnung, wie lange werde ich dann noch von diesem Moment zehren. Seit Tagen hat er mich meistens ignoriert, weder begrüßt noch sich verabschiedet. 

Wie mager er geworden ist! Erneut fällt es mir auf, wie ich ihn umarme. Diese hervorstechenden Schulterblätter! Die eingefallenen Wangen. Auch sein Hals ist so schlank geworden, die Arme, die Beine. 

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Paul schaut mal wieder in die Tages-Zeitung. Etwas Vertrautes für ihn. Zuhause nach dem Frühstück räumte er bald das Geschirr weg, um für seine Zeitung Platz zu machen. »Musst sehen …«, er zeigt auf die Zeitung, aber ich verstehe nicht, was er mir sagen möchte. 

Nach einer Weile lege ich den Sack mit Walnüssen vor ihn hin. Er strahlt, freut sich sichtlich. Es sind wieder die großen Grenoble-Nüsse, die sich leichter öffnen lassen als die Nüsse, die wir gemeinsam gesammelt hatten. Mit Eifer geht er gleich ans Öffnen der Schalen, will mir beweisen, wie viel er Kraft er in den Händen hat. Dann werden die Häutchen zwischen den Nüssen sorgfältig herausgeknobelt und die beiden leeren Hälften ganz genau aneinander gefügt.

Heute riecht es in seinem Zimmer wieder streng. Dieser säuerliche Uringeruch ist aus seinen neuen Sandalen nicht rauszukriegen. Da Paul die Inkontinenz-Einlagen oft wegschmeißt, kann das Bächlein ungehindert die Beine hinunterfließen in die Sandalen. Nichts zu machen. Es gibt so vieles, was man einfach hinnehmen muss. Probleme, die sich nicht mal mit Ratschlägen aus der 77er-Trick-Kiste lösen lassen. Höchstens in der Theorie. Die ist aber nicht gefragt. 

17. Februar 2014 – Versuch es auszuhalten 

Von vier Säulen sprach die Psychologin, die der Mensch braucht: Essen/Trinken, Schlaf, Gemeinschaft und Bewegung. 

Krampfhaft versuche ich das Gleichgewicht zu halten. Brav kämpfe ich mich Tag für Tag durch diese Grundgesetze.

Koche mir brav etwas, achte auf genug Flüssigkeit, gewöhne mir einen vernünftigen Tag/Nacht-Rhythmus an, pflege Kontakte und raffe mich auf zu ausgiebigen Wanderungen. Braves Mädchen, spreche ich mir Mut zu und klopfe mir mit der rechten Hand auf die linke Schulter. Auch da pflege ich Disziplin, positives Denken. Fromm ausgedrückt, meine Sorgen werfe ich meistens auf den Herrn, kurz, ich lese die Bibel, versuche danach zu leben und bete.

Dennoch, im Nacken sitzt die Verzweiflung. Dennoch, ich muss kämpfen. Dennoch, zwischen Zugeben und Verdrängen der großen Not um Paul drohe ich zu versinken im Schmerz. Morgens komme ich kaum noch aus den Federn, das wohlige Gefühl nach einem ausgiebigen Schlaf fehlt. Die Schwere in den Gliedern klebt an mir, nach ein paar Turnübungen löst sich die Verspannung. Auch da gebe ich mir Mühe, fit zu bleiben. 

Die Besuche bei Paul werden immer mühsamer, schmerzhafter. Kaum noch nimmt er von mir Notiz, kapselt sich ab in einer scheinbar sinnlosen Beschäftigung. In beiden Händen Kleiderbügel mit Geh-Hosen, redet er unablässig auf mich ein, in einem Versmaß vom Erlkönig. Er hält mir die Hosen entgegen, ja, klar, wieder ungebügelte Hosen! Interessant, dass er das noch immer realisiert. Geht weiter in ein anderes Zimmer, schließt die Türe, spricht Hochdeutsch, leiert in Geschwätzigkeit vor sich hin. 

Die Hosen sind ohne Falten, obwohl von der Leitung versichert wird, Geh-Hosen würden immer gebügelt. Da sind aber keine Falten! Wenn ich sie bügle, bleiben sie trotz nachlässiger Behandlung im Schrank messerscharf sichtbar. Ich weiß, Paul mag keine ungebügelte Hosen, zuhause bedankte er sich jeweils, wenn er frisch gewaschen und gebügelte Hosen anziehen konnte. Den Zusammenhang erkennen zwischen seinen Hosen und seiner Aggression ist begreiflicherweise nicht allen Pflegenden möglich. 

Erstaunlich, was in ihm alles erhalten blieb. Zwischendurch eine klare Aussage: Das ist wirklich gut, wenn er ein Glas mit starkem Himbeersirup bekommt.

Klare Momente, wo ich erkenne, dass da noch der echte Paul ist. 

Dann treffe ich ihn an in grosser Traurigkeit. Nach über 30 Jahren Ehe lernt man den Partner ohne Worte verstehen. Man liest und versteht seine Körpersprache. Vertraut sind die Falten zwischen den Augenbrauen, das Kummervolle um den Mund. Oder sich Verstehen auch ohne sich anzusehen. Seine Seele die zu meiner spricht. Und ich erkenne in ihm ein Verlassenheitsgefühl.

Die Sorge in mir erwacht, wird ihm Genüge getan? Kann man überhaupt einem Menschen in diesem Zustand gerecht werden? In letzter Zeit wird er oft aggressiver, man erwähnte die psychiatrische Klinik. Mir graut davor! Noch ein Ortswechsel, noch größer wird so die Gefahr eines weiteren Delirs. Er schaut mich hilfesuchend an, streckt seine Hand aus nach mir und ich kann sie nicht fassen. Er ist zu tief versunken ins Meer des Vergessens, wo er rettungslos verloren ist.

Und er ist enttäuscht von mir, er lässt es mich wissen mit ein paar Worten, klaren Worten, die genau aussagen, was ich vorher bereits erfühlt hatte. Nein, ich bilde mir das nicht ein, nein, es ist nicht aus der Luft gegriffen. Er hat Momente, klare Momente, wo er paar Sätze noch formulieren kann, mit präziser Wortfolge, wo er sagt, wir gehören zusammen, nicht schön von dir, traurig sei er, er spricht von Verlassenwerden, Enttäuschtsein.

Und seine Haltung, seine Miene unterstützen seine Aussage. Einmal schien er klar auch zu versehen, was ich ihm sagte. Ich sprach von meiner Traurigkeit, von der Schwierigkeit, nun ohne ihn leben zu müssen, dass ich ihn liebe, ihn aber wegen seiner Krankheit nicht zuhause pflegen könne. Da nickte er und sagte, ja, das ist traurig, armes Buseli, und strich mir über den Kopf. Wieder eine klare Übereinstimmung, ich wusste, er versteht mit dem Herzen. Doch das hielt nicht an, zu bestimmend sind seine Nöte des Alltags, die vielen Stunden des Alleinseins, in einer ihm fremden, unerwünschten Umgebung. 

Ach, wie hasste er Spitäler, Heime! Auch Menschen im Rollstuhl waren ihm unangenehm, obwohl er es nicht aussprach. Er mied den Kontakt mit ihnen. Ich kann mir vorstellen, dass das Essen am langen Tisch mit all denen, wie ich schon über demente Menschen sprechen hörte, für ihn ein Gräuel ist. Auch das kann er keinem sagen. Ich glaube, wegen diesem denen mag ich Frau X. nicht so. Auch Paul mag sie nicht.

Ein Feingefühl nicht von dieser Welt prägt die dementen Menschen, sie erahnen viel mehr mit dem Herzen, seitdem ihr Verstand verdunkelt ist.

Und das Herz ist beschwert mit all diesen Wahrnehmungen, häufiger Wechsel des Personals schadet, macht misstrauisch, Grund wiederum für das renitente Verhalten von Paul. Er war immer schon einfühlsam, obwohl er dies hinter deftiger Sprache im Alltag versteckte. 

Und ausgerechnet er muss nun in solcher Umgebung zuhause sein. Bei denen. Tag für Tag. Und immer wieder wechseln sich vertrauten Gesichter ab, er muss sich neu eingewöhnen, sich neu auf Fremde einstimmen, die ihm die Hose wechseln, seinen Hintern putzen versuchen, ihn waschen und es nicht schaffen, ihn unter die Dusche bringen. Was er zuhause noch mit Spitex-Hilfe regelmäßig akzeptierte, wurde ein steter Kampf im Heim. Er sei renitent, versucht man mir schonend zu vermitteln. Ausgerechnet Paul, der einfühlsame, freundliche, hilfsbereite Paul!

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Aggression

Überforderung, Schmerzen oder Angst können bei Menschen mit Demenz Aggressionen auslösen. Betreuende sollten Ruhe bewahren und empathisch sein. weiterlesen

Heute kommt eine beigezogene Fachperson, um die Betreuenden zu beraten wegen Paul. Wie viel mehr wünschte ich mir Hilfe für Paul selbst. Ein Care-Team. Care! Seine Seele bräuchte Hilfe. Ich denke an Helen Keller, die weder sehen noch hören konnte und oft wild um sich schlug. Paul ähnelt dieser Seele, die sich durch mangelnde Sprache und fehlendes Verstehen im Dunkel gefangen fühlt. Man hat auch kaum mehr Zugang zu ihm. Wie wünschte ich ihm fachkundige Hilfe um doch irgendwie Licht in seine Dunkelheit, in seine Verzweiflung bringen zu können.

Er suchte diesen Halt, diese Hilfe immer wieder bei mir und ich enttäusche ihn. Ich konnte seine Erwartungen nicht erfüllen.

Oft lässt er mich dies spüren, er schließt die Augen, schottet sich ab, als ob er sich vor mir schütze. Sich schlafend stellt. Meine Einbildung? Nein, denn sein Gesicht hellt sich sogleich freundlich auf, wenn Anni ihn begrüsst oder eine der ihm inzwischen doch vertrauten Betreuenden. 

Armer Paul. Immer noch sehe ich ihn als meinen vertrauten Paul. Meistens suche ich umsonst. Mal ein paar Minuten erahne ich ihn noch. Es will nicht in meinen Kopf hinein, noch weniger ins Herz, dass er nicht mehr »da« ist. Dieses stete Suchen und Enttäuschtwerden muss ich aushalten, müssen wir aushalten. 

Anni ergeht es ebenso. Ihr Mann jedoch ist meistens sanft wie ein Lamm zu leiten. Abgesehen von einzelnen bissigen Bemerkungen noch vor einigen Wochen, jetzt liegt er nur noch da, nach einer heftigen Lungenentzündung. Es gilt, den neuen Schmerzensweg auszuhalten, auf dem Weg zum endgültigen Abschied. 

12. März 2014 – Paul gibt sich auf 

Seit vier Tagen ist Paul tagsüber fast nur noch am Schlafen, nachts ist er unterwegs. Er hat sich aufgegeben, isst kaum noch. Schläft auf Bänken, harten Stühlen, vornübergebeugt, öffnet kaum die Augen bei meiner Begrüßung. Ich fühle Ablehnung, Abkapselung. 

18. März 2014 – Turbulenzen 

Anfangs März kam ein Anruf: Paul hat eine Lungenentzündung! Zeit, um Abschied zu nehmen, rät der Arzt. Andy, Fräne und Fabienne sitzen mit mir im Zimmer, Paul öffnet kurz die Augen, freut sich sichtlich am Besuch, versinkt wieder ins Schlummern. Zwei Tage später: Paul steht auf, beginnt herumzugehen! Ungläubiges Staunen des Arztes am Montag, das habe er noch nie erlebt. Paul ist einmal mehr ein Sonderfall. 

Meine Gefühle stehen auf Sturm, mein Körper fühlt sich an wie durch die Mangel gedreht, ich sehne mich nach Ruhe!

Gefahr … – man kommt ins Grübeln. Also brav fast jeden Tag eine Stunde der Aare entlang, Sonntag allein fein essen gehen im Restaurant Jägerheim, sich überwinden, allein am Tisch … Es ist schlimm inmitten von glücklichen Familien und Paaren.

Ich nehme mir einen freien Tag. Nach zwei Wochen, während derer ich oft zwei Mal täglich Paul besuchte. Ich muss wieder lernen, an mich zu denken. Es macht mit mir, ich werde getrieben, fühle mich wie im Sog eines Abflussrohres. Herr, ich schreie zu Dir: Ich mag nicht mehr! Erschöpft schaue ich in den Himmel, sehe die Röte in den Wolken über dem Wald, mein Körper schmerzt, nach einer halben Stunde auf dem Sofa liegen kann ich mich kaum mehr aufsetzen. Die Arme und Finger sind wund, voll Kratzer und blutenden Wunden. Die To-do-Liste immer noch lang: Fenster putzen, Puppen neu ausstopfen, flicken und anziehen. Unterlagen zusammenstellen für die Steuererklärung. 

Und, wie geht es Paul? Immer dasselbe, wenn ich jemandem begegne. He Du, frag mal mich, wie es mir geht? Danke, gut, es geht, bin erstaunt, was noch alles an Kraft in mir ist. Morgens, wenn ich mich aus dem Bett wälze, die schmerzenden Glieder in Gang bringe mit Turnübungen, würde ich mich lieber wieder hinlegen. Staunen am Abend, wie ich doch wieder viel erledigen konnte. Frag’ mich aber, was ich mir wünschte! Ruhe, Ruhe, Ruhe! Eigentlich mag ich nicht mehr. 

So sieht es in mir aus. Gott, Du weißt es, Du siehst mich, Du hörst auch die verborgenen Schreie. Schreie, die ich nicht wage herauszulassen, weil sich sonst die Schleusen des angestauten Schmerzes öffnen würden, mich in einen Abgrund reißen würden. Der scheußliche Abgrund einer Depression. Und aus diesen Untiefen kommt man nur mit viel, viel Aufwand wieder hoch. Langsam, mühevoll, mit äußerster Anstrengung. Das will ich verhüten.

Lieber jetzt täglich etwas an Überwindung, Selbstdisziplin, mit Bewegung, Kontakte pflegen, mich zwingen, das Schöne, Positive zu sehen. Täglich gibt es im Garten Neues zu bestaunen. Die Magnolie öffnet ihre Blüten. Die japanische Kirsche ist bereit, zum ersten Mal hier zu blühen. Dicke Knospen entwickeln sich, endlich kann auch der Hilfsstab entfernt werden. Kraftort Garten. Einerseits verlangt er mir viel ab, doch es ist zu meinem Besten. Die sorgenvolle Gedankenmühle wird zum Schönen hingelenkt. Zu großer Dankbarkeit und zum Staunen. 

24. April 2014 – Emma 

Heute hole ich meine Tante Emma vom Spital in Riggisberg ab, bringe sie ins Pflegeheim zur Erholung. Die Spitex hatte sie vor dem Bett liegend gefunden. Die ganze rechte Seite pflaumenblau, hilflos lag sie längere Zeit am Boden. Darauf musste sie paar Tage ins Spital. Nun gibt es Zwangsferien für Emma. Ich bin die einzige Angehörige, die sich um sie kümmern kann. Ich habe Emma lieb und helfe gerne nach meinen Möglichkeiten.

Es tut mir so leid, dass sie nun auch schon an mittlerer Demenz leidet und die Zukunft ist ungewiss. Bis jetzt durften wir auf die Hilfe ihres Nachbarn zählen, der neben Beruf und seinem eigenen Haushalt die Begleitung von Emma selbstlos übernahm. Ich staune, mit welcher Selbstverständlichkeit Fred sich um Emma kümmerte. Einen dementen Menschen begleiten kann recht an die Substanz gehen! Wie dankbar ich Fred bin, habe ja mit Paul schon eine erfüllende Aufgabe.

3. Juni 2014 – Wohnung räumen 

Emma hat nun einen Beistand. Ich kann das nicht auch noch machen. Und ist auch besser so, geht es mal ans Erben, sagt man, tauchten dann plötzlich Helfer auf … Ich habe nun allen Nichten und Neffen von Emma geschrieben, wer noch was möchte vom Hausrat, möge sich melden. Nein danke, sie wollen nichts. Bis Mitte August kann ich mir Zeit lassen mit der Räumung. 60 Jahre hat Emma da gewohnt, zum Glück war sie kein Messie, dennoch, viel Arbeit liegt vor mir.