17. Januar 2013 – Buseli
Paul strahlt mich an, der Blick ist klar, lieb sagt er laut und deutlich, zwei Mal: »Buseli, Buseli«. Ich umarme ihn, er erwidert die Herzlichkeit, drückt mir ein paar Küsse auf die Wange. Wie gut tut diese Begegnung, wie lange werde ich dann noch von diesem Moment zehren. Seit Tagen hat er mich meistens ignoriert, weder begrüßt noch sich verabschiedet.
Wie mager er geworden ist! Erneut fällt es mir auf, wie ich ihn umarme. Diese hervorstechenden Schulterblätter! Die eingefallenen Wangen. Auch sein Hals ist so schlank geworden, die Arme, die Beine.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Paul schaut mal wieder in die Tages-Zeitung. Etwas Vertrautes für ihn. Zuhause nach dem Frühstück räumte er bald das Geschirr weg, um für seine Zeitung Platz zu machen. »Musst sehen …«, er zeigt auf die Zeitung, aber ich verstehe nicht, was er mir sagen möchte.
Nach einer Weile lege ich den Sack mit Walnüssen vor ihn hin. Er strahlt, freut sich sichtlich. Es sind wieder die großen Grenoble-Nüsse, die sich leichter öffnen lassen als die Nüsse, die wir gemeinsam gesammelt hatten. Mit Eifer geht er gleich ans Öffnen der Schalen, will mir beweisen, wie viel er Kraft er in den Händen hat. Dann werden die Häutchen zwischen den Nüssen sorgfältig herausgeknobelt und die beiden leeren Hälften ganz genau aneinander gefügt.
Heute riecht es in seinem Zimmer wieder streng. Dieser säuerliche Uringeruch ist aus seinen neuen Sandalen nicht rauszukriegen. Da Paul die Inkontinenz-Einlagen oft wegschmeißt, kann das Bächlein ungehindert die Beine hinunterfließen in die Sandalen. Nichts zu machen. Es gibt so vieles, was man einfach hinnehmen muss. Probleme, die sich nicht mal mit Ratschlägen aus der 77er-Trick-Kiste lösen lassen. Höchstens in der Theorie. Die ist aber nicht gefragt.
17. Februar 2014 – Versuch es auszuhalten
Von vier Säulen sprach die Psychologin, die der Mensch braucht: Essen/Trinken, Schlaf, Gemeinschaft und Bewegung.
Krampfhaft versuche ich das Gleichgewicht zu halten. Brav kämpfe ich mich Tag für Tag durch diese Grundgesetze.
Koche mir brav etwas, achte auf genug Flüssigkeit, gewöhne mir einen vernünftigen Tag/Nacht-Rhythmus an, pflege Kontakte und raffe mich auf zu ausgiebigen Wanderungen. Braves Mädchen, spreche ich mir Mut zu und klopfe mir mit der rechten Hand auf die linke Schulter. Auch da pflege ich Disziplin, positives Denken. Fromm ausgedrückt, meine Sorgen werfe ich meistens auf den Herrn, kurz, ich lese die Bibel, versuche danach zu leben und bete.
Dennoch, im Nacken sitzt die Verzweiflung. Dennoch, ich muss kämpfen. Dennoch, zwischen Zugeben und Verdrängen der großen Not um Paul drohe ich zu versinken im Schmerz. Morgens komme ich kaum noch aus den Federn, das wohlige Gefühl nach einem ausgiebigen Schlaf fehlt. Die Schwere in den Gliedern klebt an mir, nach ein paar Turnübungen löst sich die Verspannung. Auch da gebe ich mir Mühe, fit zu bleiben.
Die Besuche bei Paul werden immer mühsamer, schmerzhafter. Kaum noch nimmt er von mir Notiz, kapselt sich ab in einer scheinbar sinnlosen Beschäftigung. In beiden Händen Kleiderbügel mit Geh-Hosen, redet er unablässig auf mich ein, in einem Versmaß vom Erlkönig. Er hält mir die Hosen entgegen, ja, klar, wieder ungebügelte Hosen! Interessant, dass er das noch immer realisiert. Geht weiter in ein anderes Zimmer, schließt die Türe, spricht Hochdeutsch, leiert in Geschwätzigkeit vor sich hin.