20. Juni 2011 – Und es geht doch weiter
Mühsehlig letzte Kräfte mobilisierend, stehe ich auf. Es muss ja irgendwie weitergehen, trotz allem. Es ist halb acht. So lange habe ich geschlafen, und da schon wieder: Chemie sei Dank.
Verhasste und geliebte Chemie zugleich. Verhasst, weil du wahrscheinlich meinen Mann vergiftet hast. Geliebt, weil ich doch endlich gegen Mitternacht unter deiner Regie einschlafen konnte.
Kaffee, Frühstück. Schon geht es etwas besser. Aber ich mag nicht mögen, ich kann nicht können, ich will nicht wollen. Wirklich?
Doch noch nötig: Anmelden bei der Hausärztin, danken, und zugeben: «Rien ne va plus». Also, morgen Nachmittag. OK. Und noch ein Gedanke. Eigentlich könntest du dich bei Margret bedanken für die liebevolle Bewirtung gestern, die wohltuende Gemeinschaft bei ihnen zuhause. Danken ist immer gut.
Geht das? Nein. Ehrliche Aussage.
Mein Hauptproblem: Der Vertrag mit dem Heim und das erforderliche Arztzeugnis für den Bericht. Margret: Ich komme mit dir, wenn du willst? Ja gern. In einer Viertelstunde hole ich dich ab. Es ist Viertel nach neun.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Unglaublich, wie schnell sich eine Stimmung verändern kann! In null Komma plötzlich bin ich auf den Beinen, adrett umgezogen, fein säuberlich zurecht gemacht, Protokolle eingepackt. Ich drucke noch schnell die neusten Unterlagen aus und ab in die Handtasche! Welche Energien da freigesetzt werden, wenn Hoffnung ins Herz fliesst!
Paul wird im Korridor von einer Pflegerin im Rollstuhl herumgeschoben. Fast mürrisch «wirft» sie mir den Rollstuhl zu. «Gut, dass Sie da sind, dann können Sie ja gleich übernehmen.» Sie geht weiter, ihren dringenden Arbeiten nach.
Es weht ein neuer Wind! Paul ist wieder in seinem Element: die Menschen auf Trab halten. Kenne ich. Sanft, aber auf seine Art. Er will immer wieder aufstehen, das Tischchen am Rollstuhl hält ihn zurück.
In seinem Zimmer angekommen, sagt er Aha. Er erkennt sein Zimmer wieder. Er ist sehr müde, eine Pflegerin legt ihn ins Bett. Sofort schläft er ein. Selig wie ein Baby, allerdings mit langen Atem und Aussetzern, um dann mit Getöse alles nachzuholen. Auch bekannt.
Wir warten auf die Arztvisite. Zwei Stunden … nichts tut sich, doch Margret nutzt die Zeit, um die Unterlagen zu studieren, stösst auf einen wichtigen Punkt, der uns weiter helfen kann. Endlich treffe ich den Arzt, ich brauche unbedingt einen Kurzbericht, den ich dann der Kündigung beifügen muss.
Nun habe ich auch wieder Kraft, mir das Mittagessen zu bereiten. Wie gewohnt nehme ich ein gebratenes Hackplätzli, mache etwas Gemüse und basta. Hauptsache der Magen schweigt. Nachmittags versuche ich etwas zu schlafen. Renate ruft an. Heute wird sie mich zu Paul begleiten.
Wir helfen Paul beim Essen. Immer wieder will man ihn mit den gemörserten, scheusslichen Tabletten überlisten. Soll da einer Freude am Essen bekommen!
Grosse Blätter der Lasagne sticht er schliesslich mit der Gabel an, führt sie zum Mund und beisst Stücke davon ab. Mir wird elend. Fühle mich schon nach 20 Minuten wieder kraftlos, wund und abgeschlagen. Das ist nicht zum Aushalten, bei aller Liebe, Sehnsucht und beim schmerzvollen Gedanken, ihn irgendwo fremden Händen überlassen zu müssen. Der Druck auf dem Herzen ist krass.
Am Fernsehen gibt es abends eine Sendung über das Amazonas-Gebiet mit all seinen wunderbaren Tierarten. Das mag ich sehr. Reisen, Entdecken, Tiere beobachten. Das lenkt mich ab von den trüben Gedanken und mit dem Fernseher fühle ich mich auch nicht so allein.
21. Juni 2011 – Die Kündigung
Die Kündigung fürs Pflegeheim muss heute geschrieben werden! Das lässt mich energischer aufstehen. Ich muss einfach funktionieren! Dann der Termin um vier Uhr bei meiner Hausärztin, ich muss wieder einmal an mich denken.
Telefon vom Spital. Nicht erschrecken, sagt die Betreuende, ich frage bloss etwas, meint sie. Paul sei so unruhig im Wachzustand, dass sie – wie gehabt – Sitzwachen engagieren müssten. Ob ich eventuell kommen könnte? Nein, es geht heute leider nicht. OK, kein Problem.
Heute hat Pauls Schwester Ruth vor, ihn im Spital zu besuchen. Aber ob ich mich darauf verlassen kann, weiss ich nicht. Es macht mir grosse Mühe, die Kündigung ans Pflegeheim zu schreiben und für ein genaues Protokoll all die Daten zusammenzutragen.