»Schaut her, wie ich mich aufopfere« - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (91)

»Schaut her, wie ich mich aufopfere« 

Paul ist schwierig geworden, er kann sich nicht ausdrücken, man versteht ihn nicht, er wird wütend, wenn er erkennt, dass wir nicht begreifen. Enttäuscht wendet er sich von mir ab. Erneut fühle ich mich elend, ich kann ihn weder erreichen, noch ihm helfen.

2. Juli 2014 – Zermürbende Gedanken 

Viele offene Fragen quälen mich. Kehren gerne ein bei mir in der Morgendämmerung. Will sie nicht anhören und doch geistern sie immer wieder in meinem Kopf herum. Ungewollt. Unkontrolliert. Ich muss sie mal auf Papier festhalten. Dann das Blatt zerreissen, in die Aare werfen, wegspülen. 

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ist Paul wirklich durch die Krankheit in diesen elenden Zustand geraten? War es das Versorgt werden, das ihn so krank machte? Wurde man ihm gerecht? Hat er genug Zuwendung erhalten? Auch von mir. Wie viele seiner Leiden hätte man vermeiden können? Hat er von mir erwartet, dass ich ihn dort raushole? Habe ich voreilig die Ambulanz kommen lassen, als er bewusstlos dasass?

Oder war er in einen Tiefschlaf versunken, der bloss einer Bewusstlosigkeit ähnlich war? Warum habe ich die Krankenakte nicht verlangt, quälende Frage nach Schuld, Verantwortung. Dann im Notfall, morgens um drei Uhr, als sie mich um Hilfe riefen, Paul renne in der Station herum, tobe und lasse sie nicht beruhigen. Als ich dort ankam, schlief er wieder, man musste ihn mit einer Spritze ruhigstellen.

Dann die Frage, ob ich ihn wieder nachhause nehmen könnte? Hilflos muss ich den Arzt angeschaut haben! Sogleich winkte er ab, nein, nein, sie würden ihn ins Lory-Spital verlegen. War es bloss diese Überführung in den Notfall die ihn derart aus den Gleisen warf? Bin ich an ihm schuldig geworden, weil ich ihn nicht mehr nachhause nahm? Man hat mir das ausgeredet, aber mein Herz begreift es nicht. 

Dann kommen wieder die realen Erinnerungen. Die Monate vorher. Als keine Gespräche mehr möglich waren, bloss Äusserungen zum Alltagsgeschehen. Viel Missverständnisse, Verdrehungen, Verwechslungen, Versuche von Erklärungen über notwendige, tägliche Verrichtungen. Ärger, Verzweiflung man redete nur noch aneinander vorbei. Immer wieder irgendwelche Fragen, Ablenkungen – ich konnte keinen Gedanken mehr zu Ende denken.

Blanke Nerven, beiderseits. Und unterwegs immer wieder ich muss auf die Toilette, wenige Minuten, nachdem er bereits dort war. Ständiger Stress, zuhause, unterwegs. Meckern über alles, auch über mein Essen. Unzufriedenheit wurde Alltag. Gang auf dem Minenfeld, nie wissend, weshalb und wo eine Mine hochgeht. Und immer wieder die unruhigen Nächte, in denen er herumirrte und nach Hause wollte. 

Er will arbeiten. Mit Bleistift zeichnet er Linien auf ein Holzbrett, misst nach mit dem Meterstab. Schreibt die Zahlen auf ein Blatt. Berufskenntnisse. Gelernt ist gelernt. Auch da zu wenig gerechte Haltung. Zu wenig Fachkräfte, ich helfe, wenn immer ich kann. Er ist ungeduldig, mürrisch, ich verstehe ihn nicht, er resigniert, wird wütend. Erneut Schuldgefühle. 

Puzzles. Ich bringe ihm stets neue. An meiner Seite mit wenig Hilfe setzt er sie zusammen, umrahmt sie mit Abdeckband, verziert sie mit Filzstift. Hat sichtlich Freude, lebt dabei auf. Kreativität war immer seine Stärke. Arbeitet hart, ereifert sich, verweigert das angebotene Essen, will weiterarbeiten. Gestresst, gehetzt, getrieben. Fast wie früher.

Wutausbrüche bei der Körperpflege. Paul ist schwierig geworden, er kann sich nicht ausdrücken, man versteht ihn nicht, er wird wütend, wenn er erkennt dass wir nicht begreifen. Erneut Resignation. Enttäuscht wendet er sich von mir ab. Erneut fühle ich mich elend, ich kann ihn weder erreichen noch ihm helfen. Hilflosigkeit, Ohnmachtsgefühle machen sich in mir breit.

Besuche werden zur kraftraubenden Herausforderung. Einerseits verzehrt mich Sehnsucht nach meinem Mann, anderseits nehme ich immer wieder neue Enttäuschungen mit.

Die ich ihm zufüge, die er mich fühlen lässt. Qualen, die es zu verarbeiten gilt. Zerreissproben. Meine Seele trauert um meinen Partner, schon so lange Zeit. Er ist da und doch nicht da. Ich sehe ihn, aber er ist nicht präsent. 

Trauer, Selbstvorwürfe, Schuldgefühl, Wechselbad der Gefühle. Auftakt war das „zufällige“ Gespräch vor der Abreise mit der Verantwortlichen Pflege und Betreuung. Auch ihr gegenüber zeigt Paul seit einiger Zeit diese „Abschottung“. Paul geht ihr aus dem Weg. Er verabschiede sich auf seine Weise, meint sie. Er wende sich ab von der Umwelt, versinke in seine Welt. Also ist dieses Abschotten nicht nur mir gegenüber. Das zu hören tröstet. Ich behalte die Aufzeichnungen. Es ist wie es ist. Ich stehe dazu. 

13. August 2014 – Schlüsselabgabe 

Ich habe keine Zeit mehr zum Schreiben. Turbulenzen noch und noch. Besuche bei Paul, Besuche bei Emma, trösten, vertrösten. Dazwischen ihre Wohnung räumen, zum Glück musste ich sie nicht putzen. Und Glück hatte ich auch, dass in unserer Nähe ein Ehepaar Wohnungsräumungen macht. Ich bemühte mich, mit Emmas Sachen umsichtig umzugehen, fragte Nachbarn, Freunde von Emma, wer gerne noch was hätte. Es tut immer weh, einen Haushalt aufzulösen. 

Worüber ich mich freue? Ich habe Aufsätze von Emma gefunden, die sie im Seminar schrieb. Schade, hat sie später nicht mehr geschrieben. Aber Emma war viel unterwegs. Wenn sie frei hatte, ging sie wandern. »Ich bin bestimmt einmal um die Erde gewandert, zählt man all die Wege zusammen«, sagte sie oft schmunzelnd. Ich fand auch ein Buch wo sie alle ihre Bergtouren und Wanderungen notierte. Echt, sie war sehr oft und weit unterwegs! 

Juhui, ich habe es geschafft. Heute konnte ich Emmas Beistand die Schlüssel übergeben!

Noch ein anderes Juhui: Meine Wanderungen an freien Tagen dehne ich aus. Diesmal durch den Forst. Einmal bis nach Neuenegg, ein anderes Mal gar nach Laupen! Drei Stunden sind angegeben, ich benötigte vier. Suchte und fand natürlich Pilze! 

Auf dem Jakobsweg habe ich schon recht viele Etappen hinter mir! Erst war es wichtig, mir die Stempel in meinen Pass zu sammeln. Heute gehe ich einfach um der Freude und Erbauung willen. Übrigens: Ich bin jetzt im Greisenbuch des Berner Münster verewigt! Ich glaube ab 75 darf jeder, der es die Treppe hinaufschafft, sich dort eintragen. Ich fühle mich aber noch nicht als Greisin! 

4. Dezember 2014 – Überwinden mit GA 

Ich habe mir ein Generalabonnement der SBB gelöst. Die Reisen werden immer teurer, je weiter entfernt die Etappen liegen. Nun brauche ich nicht mehr am Automaten mühsam die Billette lösen. 

Früh morgens werde ich mit dem Lied geweckt: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt… Ach, Anni, du redest davon, dass ich vor mir davonrennen würde…. Diesmal liegst du falsch: Es ist doch Gunst, dass ich die nötige Kraft bekomme, um mich aufzumachen und meine freien Tage zu geniessen! 

Es kostet dennoch Überwindung, mich morgens früh aufzumachen. Die Kleider sind schon bereit, der Rucksack ist gepackt, noch Tee kochen, frühstücken. Ohne Vorbereitungen abends zuvor würde ich es wohl nicht schaffen und lieber den Weg des geringsten Widerstandes einschlagen: Zu Hause bleiben! 

Das Lied macht mich getrost und fröhlich. Es sagt treffend, es sei ein Geschenk, dass ich gehen kann. Noch. Darf. Ich werde beschenkt und kann mich an der Schöpfung erfreuen. Es beglückt mich, Neues zu entdecken, ich übe auch das Überwinden, mich allein aufzumachen, nach Monaten, in denen ich mich zuhause in meiner Höhle vergraben hatte. Nun stehe und gehe ich! Nach anfänglich grossem Widerstand und Schmerz, allein gehen zu müssen.

Es braucht viel Kraft, dieses sich Überwinden und Neues zu wagen. Das muss ich lernen: Mit öffentlichem Verkehr reisen, Fahrpläne studieren, Strecken planen, Wanderungen aussuchen. Wie gern würde ich zu zweit gehen, doch wer hat schon Zeit? Da hat es bei meinen Freundinnen viele Gründe abzusagen: Grosskinder hüten, Therapie, Arztbesuche, Seminare, Familienpflichten usw. Oder viele bleiben lieber zuhause und haben keine Lust mehr, sich aufzumachen. Ich könnte ewig warten. Meine Devise lautet: Wenn nicht jetzt, wann dann? Viel Zeit bleibt mir ohnehin nicht mehr. 

Nun freue ich mich, lasse mich beschenken von der Natur, fühle mich unter Gottes Schutz geborgen und beschirmt. Ich verlasse mich auch fest darauf, dass für Paul gesorgt wird durch die Pflegenden. Loslassen lernen! Das hört man immer wieder.

Es ist ein Spagat zwischen der Verantwortung für einen hilflosen Menschen, der Teil von mir ist und dem Vertrauen, das ich dem Team schenke, welches für Paul verantwortlich ist. 

Das ist neu: Ich versuche ab und zu Paul nur noch drei Mal die Woche zu besuchen. Das ist ebenfalls ein schmerzhafter Spagat zwischen der Sehnsucht, der Verantwortung, der Angst vor dem eigenen Egoismus. Ist es wirklich Liebe oder Selbstdarstellung? Schaut her, wie ich mich aufopfere? Bewundert mich, wie ich Treue bezeuge meinem Gatten gegenüber, wie ich das Versprechen toll hochhalte: auch an schlechten Tagen….

Das rechte Mass finden. Niemand kann helfen, dieses ausgewogene Anteilnehmen richtig einzuschätzen. Jeder muss es für sich selbst, mit Herz und Verstand abwägen. Einzig die Erfahrung von Angehörigen, das Beobachten, wie es ihnen danach geht, kann Fingerzeige geben. Ihre Ratschläge helfen, es sind aber bloss individuelle Erfahrungen.

Eine Warnung nahm ich sehr ernst: Es braucht neben den Besuchen die freien Tage, die man für sich bewusst nehmen muss, darf und soll. Keiner weiss, wie lange es dauern wird, es braucht viel, viel Kraft, alles zu verarbeiten. Und diese Kraft kann man eben aus diesen Auszeiten neu schöpfen. Ein Standbein nebenher aufbauen, einen langen Atem haben, um danach nicht zusammenzubrechen und ins totale Tief zu versinken. 

Seit den fünf Ferientagen in Andermatt ist mir bewusst, schmerzlich bewusst, wie mein Alleinsein in meiner schönen Wohnung mich oft bedrückt. Selbst bei guter Nachbarschaft, vielen Freundschaften, ist das Alleinsein schwer zu ertragen. Auch die Auszeiten im Läbeshuus in Heiligenschwendi oder im Ländli zeigten mir, dass ich es sehr geniesse, Menschen um mich zu haben mit der Möglichkeit, mich zurückzuziehen. Ich mache mir Gedanken über neue Lebensformen in der Zukunft. 

Du musst auch leben. Du musst zu dir schauen. Du darfst auch an dich denken. Viele gut gemeinte Ratschläge. Sie umzusetzen braucht Kraft, fast jugendlichen Elan. Ich bin 78jährig. Im Ruhestand. Jetzt mein Leben noch neu zu gestalten, die Wohnung als Single einrichten, mir die Frage stellen, was möchte ich gerne tun? ist eine neue Herausforderung. Ich versuche es, versuchte es, begann zu feilen an meinem Alltagstrott und habe es recht gut geschafft.

Immer wieder denke ich an die vier Säulen, richtig Essen, genug Schlaf, Gemeinschaft pflegen und ausgiebige Bewegung. 

Schwierig finde ich, dass meistens der Anstoss für Gemeinschaft von mir ausgehen muss. Das verbraucht zusätzliche Energie. Habe keine Wahl, da muss ich durch! Auch die Zahl der Menschen, die Paul noch besuchen, nimmt merklich ab. Man weiss nichts mehr mit ihm anzufangen. Ist unsicher geworden, hilflos.

Am meisten schmerzt mich die Äusserung: Ach weisst du, ich möchte Paul doch lieber in Erinnerung behalten, wie er früher war… Als ob er sich das aussuchen könnte, zu bleiben wie er war! Noch ist er ja da! Endlich sollte die Gesellschaft lernen, mit Zerfall und Krankheit umzugehen. Feigheit? Bequemlichkeit? Es ist eine miese Ausrede. Wenig Freunde sind geblieben. Wie sagte mal jemand: Lebendig vergessen. 

14. Februar 2015 – Aussergewöhnlich schön

Obwohl ich Paul bereits gestern besuchte, zieht es mich heute erneut zu ihm. Da nützen alle Vorsätze nichts, die Besuche auf drei Mal die Woche zu reduzieren. Ich muss einfach gehen. Das hat wirklich rein gar nichts mit schlechtem Gewissen zu tun… Ich sehne mich nach ihm. 

Paul sitzt in der Küche am Tisch, schaut zum Fenster hinaus. Mit der Mafia-Boss Brille. Er sieht mich und lächelt mich an. Wie bin ich froh, dass er heute weder schläft noch schlummert. Hellwach ist er, protestiert nicht einmal, wie ich ihm die grosse Sonnenbrille ausziehe: Ich möchte so gerne in Deine Augen sehen. Er strahlt mich wieder an. Schon dieser Anblick erwärmt mein Herz, Balsam, Aufatmen, Durchatmen. 

(Zuvor: Elf lange Tage durfte ich nicht mehr zu ihm gehen wegen eines Noro-Virus. Gestern hielt ich es nicht mehr aus. Ich konnte nicht mehr warten. Donnerstag ist zwar Duschen, auch eine Art Sperre. Paul war am Tisch damit beschäftigt, Kanten zu schleifen. Er nahm kaum Notiz von mir. Und das nach elf langen Tagen! Die paar Kekse ass er, den letzten brauchte er als Schleifpapier. So vertieft war er in seine anstrengende Arbeit, liess sich von mir nicht ablenken. Nach einer Viertelstunde setzte er sich ermüdet hin, nickte ein. Bald schlief er tief. Traurig machte ich mich auf den Heimweg. Mit dem grossen Schmerz, der mein Begleiter geworden ist.)

Umso glücklicher macht mich heute dieser wache Moment, da Paul lieb auf mich einredet, obwohl ich nichts verstehe. Ich halte ihn fest umschlungen, da hebt er seinen Arm und drückt mich fest an sich. Tränen kullern über mein Gesicht. Ab und zu brummelt er zufrieden vor sich hin, geniesst diese Streicheleien offensichtlich ebenfalls. 

Wir sind allein in der Küche, die Betreuenden machen eine Kaffeepause. Ich halte ihn fest, sitze unbequem, der Rücken schmerzt, doch es stört mich wenig, zu glücklich bin ich darüber, wieder einmal Paul zu spüren, seine Stimme zu hören, seine Wärme zu empfangen. Mal fängt er klar einen Satz an: Weisst Du, eigentlich… kann ihn aber nicht beenden. Trauer will mich wieder umgarnen, ich verscheuche sie. Noch fester drücke ich Paul an mich. Wie mager er ist. Bloss noch Haut und Knochen, obwohl er doch isst. (Fortsetzung folgt …)

Hautnah

Er schlägt mich

Dieselben Hände, die mich gestern gestreichelt hatten, schlagen heute nach mir, treffen mich leicht, ich weiche aus. Schaue ihn wohl entsetzt an, er … weiterlesen