6. Mai 2013 – Hilfe annehmen
Wieder ist es Montag. Nehme heute frei. Die letzten vier Tage war ich nachmittags bei Paul. Heute muss ich mich ausruhen. Der Körper ist schon morgens wie Blei, mühsam wälze ich mich aus dem Bett. Ohne meine antrainierte Disziplin würde ich wohl vergammeln, mich weder erheben, noch Ordnung halten im Haushalt.
Diese eiserne Disziplin muss man an guten Tagen üben. Dann hält sie sich in schlechten Tagen eher aufrecht. Ich kann die Menschen so gut verstehen, die sich schliesslich einfach gehen lassen. Nicht mehr wollen können. Manchmal schleicht sich ein solches Gefühl auch bei mir ein. Dann schreie ich zu Gott, halte mich an seine Verheissung: Er gibt den Müden Kraft. Ein täglicher Kampf.
DAS TAGEBUCH
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich bin entschlossen, endlich Hilfe anzunehmen. Bevor mein Körper um Hilfe schreit. Bevor er streikt. Der körperliche Schmerz ist manchmal derart stark, dass ich zu Schmerzmitteln greife. Ein halbes, von der schwächsten Sorte, doch es ist ein Alarmzeichen, wenn ich zur Chemie greifen muss. Der Druck auf meiner Brust ist so stark als würde es mich nächstens zerreissen.
Gedanken an Paul muss ich verdrängen, es ist gut, dass mich hier der Umbau des Gartens voll beansprucht. Der grosse Kraftakt – Steine schleppen, altes morsches Holz vom Zaun ausreissen, schwere alte Pfosten vom Treibhaus zusammentragen – hinterlässt Spuren. Verständlich, dass ich mich fühle wie nach einer Bergtour.
Morgen das erste Gespräch mit der Psychologin. Inzwischen weiss ich wenigstens auszusprechen, wo «es» weh tut. Kurz zusammengefasst: Ich leide an Liebeskummer. Ich habe Sehnsucht nach dem Menschen, der 30 Jahre an meiner Seite war.
Ich bin wütend, dass er wohl da ist, aber doch nicht mehr «da». Ich habe so meine Zweifel, dass er gut und «artgerecht» betreut wird. Und allgemein: Da ist die Überbelastung, weil nun all die Verantwortung rund ums Haus auf meinen Schultern lastet, zusätzlich zu den Besuchen im Pflegeheim.
8. Mai 2013 – Das Trauma
Das ist es also: Was ich mit Paul im Pflegeheim in N. erlebt habe, bedrückt mich noch immer zutiefst und der Schmerz um ihn lässt mich nicht frei sein. Die Angst um sein Befinden ist immer präsent. Er würde mich zu sehr vermissen, weil seine bisherigen Betreuenden alle gegangen sind.
Das ganze Team ist inzwischen weg, nur wenige der Neuen haben den richtigen Draht zu Paul schon gefunden.
Schmerz und Angst. Da brauche ich seelsorgerische Hilfe, um dieses Trauma loszuwerden. Gestern im Gespräch mit der Psychologin kam dieser Druck zutage, stets flossen die Tränen, wenn es um Paul ging. Nicht die Belastung der Besuche, nicht mein eingeschränkter Alltag und die viele Mehrarbeit zuhause. Es ist Vergangenes, dass mich noch zu sehr prägt. Ich musste es verdrängen um die Gegenwart auszuhalten. Doch braucht das Unverarbeitete viel Kraft und raubt mir den Frieden.