Liebe auf der Probe - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (27)

Liebe auf der Probe

«Ich bin in einer neuen Berufslehre gelandet – Pflegerin eines Menschen mit Demenz. Rund um die Uhr. Und das schon seit mindestens vier Jahren.» U Kehrli

Frau Kehrlis Gesundheit ist angeschlagen. Zermürbt vom Alltag und geplagt von Zweifeln sinniert sie über Wahrheit, Gott und die Liebe. Ihre Erkenntnisse sind ebenso einleuchtend wie berührend.

30. September 2010 – Der Tag beginnt gut

Die abschliessbaren Handgriffe für die Balkontüren wird mein Sohn Andy heute Vormittag in Heimberg abholen, um sie dann zu montieren. Wie beruhigend und wohltuend der Gedanke ist, jemanden zu haben, der mich beschützt.

Mit Andy kann ich auch gut reden (siehe Rilkes Liebes-Version in Folge 26 dieses Tagebuchs) aber das mit dem «berühren» ist auch hier klar kein Thema. Ach, Rilke, was hattest du nur für eine unmögliche Definition von Liebe! Mir ist die von Paulus viel lieber, sie ist treffender.

Die Erkältung liess mich kaum schlafen heute Nacht. Zudem zweimal Paul aufs WC begleitet, trockenes Höschen mit Einlage gebracht – es wird schon bald zu einem eingespielten Ritual. Bin schon dankbar, dass er nun mit Hilfe der Nachtlichter den Weg auf die Toilette besser findet. Ich fühle mich elend, schwach, krank.

Paul macht das Frühstück ganz allein. Der Tag beginnt gut. Es dauert wohl eine halbe Stunde, doch lieber langsam als gar nicht. Nun muss ich ihn auf die neuen Türschlösser vorbereiten.

Wie sag ich es ihm bloss? Wieder diese Zwickmühle, ich mag ihn nicht überfahren, doch was versteht er noch? Ich versuche es mit der Wahrheit.

Ich erzähle ihm, wie er zweimal nachts durch die Balkontüren auf die Strasse hinaus gegangen war. Wie er geträumt hat und schlaftrunken den Weg zum WC nicht fand. Wie er sich verirrt hat im Schlaf und ich ihn schützen musste, damit er sich bei dieser Kälte nicht den Tod holte. «Wir haben Glück gehabt, dass ich dich fand.»

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Er kann das (wie erwartet) nicht glauben. Er denkt, ich schwindle ihn an. Er ist konsterniert. Ich hätte ihm das gerne erspart. Es ist nun mal ein Problem, sich entscheiden zu müssen: Wahrheit oder Verhüllung, Heimlichkeiten. Noch glaube ich, ihn mit der Wahrheit konfrontieren zu können, doch zweifle ich daran, ob dies in jedem Fall gut für ihn ist.

Für mich schon, denn ich mag ihn weder übergehen noch anschwindeln.  Diplomatie ist eben halbe Wahrheit und das ist dennoch Lüge.

Das macht den Alltag so mühsam, jede Information muss gefiltert werden, jede Aussage wird zensuriert – schädlich oder nicht. Nützlich oder doch nicht. Verständlich oder verwirrend. 

Wie bei der Kindererziehung, da muss man auch immer überlegen und prüfen. Ein wichtiger Unterschied: Kinder hat man, wenn man jung ist. Mein Problem ist, dass ich eigentlich eine «Schonzeit» bräuchte.

Auch ich bin müde geworden, etwas langsamer im Denken, ich möchte endlich meine Ruhe haben. Doch ich bin in einer neuen Berufslehre gelandet – Pflegerin eines dementen Menschen. Rund um die Uhr. Und das schon seit mindestens vier Jahren.

Ein «Laufen wie auf einem Minenfeld» habe ich unsere Beziehung vor drei Jahren genannt – immer überlegen müssen, wo und wann es als nächstes knallt. Mühsam ist der Umgang mit ihm, längst ist ein Miteinander dahin. Ich bin allein auf mich gestellt und habe dazu noch eine Sonderaufgabe gefasst. 

Wer kann mir das nachfühlen? Wer fühlt eigentlich mit?

Wenn ich an das gestrige Telefon mit Hanni denke, als ich mich eher angegriffen fühlte, in die Verteidigung gedrängt. Oder an das Gespräch vor einem Jahr mit dem Hausarzt, der keinen besseren Ausspruch wusste als: «Ja, Frau Kehrli, das ist halt so, in guten wie in schlechten Tagen …». 

Ich hätte ihn schütteln können. Später, durch einen Hinweis an die Ärztin in seiner Praxis, hat er von ihr eine Lektion erhalten, wie man mit Angehörigen umgehen sollte. Sie hatte unsere Situation sogleich erkannt und gab mir viele gute Tipps.

Frau Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Sie war es, die Paul in der Memory Klinik für eine Diagnose anmeldete, was der Hausarzt wiederum als Geldverschwendung bezeichnet hat. (Er ist extrem auf der Sparwelle). Zu extrem, wie die Spitex-Hilfe auch schon erfahren hat. Mit ihr habe ich eine gute Fürsprecherin.

Eben waren Susanne und Werner hier, um die Stabelle abzuholen. Lange Bank erledigen, Druck wegnehmen, Erleichterung.

Über das Thema Erledigungsblockade hab ich mal nachgedacht. So vieles landet bei mir auf der langen Bank.

Dabei stelle ich fest, dass sich ein grosser Teil des Papierkriegs, einfach in einem Kästchen deponiert, nach einer gewissen Zeit von selbst erledig. Das gibt es auch.

Was beim Empfang einer Mitteilung so wichtig scheint, ist nach einer Weile bedeutungslos geworden. Prediger Salomo lässt grüssen. Alles ist vergänglich, es gibt auch nichts Neues unter der Sonne. Alles ist wie dem Wind nachrennen. Was ist eigentlich von Wert? Was bleibt? Was ist wirklich von Bedeutung?

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

Jetzt spenden

Schon in dieser, meiner Situation – ausser Gefecht gesetzt durch eine banalen Erkältung: Lustlos hänge ich rum. Die Nacht erleidend warte ich auf die Morgendämmerung und den Kaffee und erkenne, dass es wenig gibt, das wirklich wichtig ist. Vieles mag uns wichtig erscheinen, löst sich aber im wahren Lichte auf.

Die Liebe – da bin ich nun beim Thema, aber nicht in der Version von Rilke. Freundlich sein mit meinem Partner, der mich immer wieder dasselbe fragen mag, ist Liebe. Liebe ist auch, wenn ich mich ohne zu Klagen nachts wecken lasse, um ihn auf die Toilette zu begleiten. Wenn ich meine Interessen hintanstelle.

Wenn ich darauf achte, überall in der Wohnung Sicherungen einzubauen, damit er sich nachts nicht verirrt, ist das Liebe.

Und wenn ich hoffe, ihn nie in ein Heim geben zu müssen, was ich mir niemals vorstellen kann …

Das beste Beispiel für Liebe sehen wir an unseren Kindern. Was nimmt man als Eltern nicht alles auf sich! Da ist das Bündel, das schreit, nässt, stinkt, uns den Schlaf raubt und unser bisheriges Leben total auf den Kopf stellt.

Das nichts anderes tut, als uns Arbeit zu verursachen und uns dauernd auf Trab hält. Nichts, aber auch gar nichts bekommt man in diesen ersten Tagen zurück. Da ist kein Dankeschön, keine Ermutigung, keine Geste der Liebe von diesem kleinen Schreihals.

Eigentlich ein Grund zum Ärgern. Wenn da nicht das Geheimnis der grossen Liebe wäre … Wer kann das erklären, wer versteht es? Wenn das nicht wahre Liebe ist! Rilke, adé mit deiner Definition von Liebe! Paulus sagt es viel schöner: Die Liebe erträgt alles, erduldet alles, erhofft alles, steht alles durch. Sie hört niemals auf. Strebet nach der Liebe. 

Ich bin in einer aussergewöhnlichen Schule gelandet. Und das in meinem Alter!  Resilienz entwickeln, würden Fachleute dazu sagen.

1. Oktober 2010 – Kyrie Eleison

Heute, an Pauls Geburtstag, wieder innige Schreie aus den Tiefen meines Herzens: Erbarme dich, Herr! Neues Tischtuch, Blumen an ihrem Platz, spezielle Brötchen, ein Ei, alles liebevoll vorbereitet. Es dauert, bis er sich angezogen hat.

Wenn ich seine Kleider in der richtigen Reihenfolge hinlege, kommt er meistens allein zurecht. Ich lasse ihn machen, auch wenn es dauert. Es ist eine Art Therapie. Er würde zu schnell ganz abhängig von Fremdhilfe werden. Liebe kann auch «etwas nicht tun» sein.

Endlich kommt er, unrasiert mit Dreitagebart, unruhig, mit glasigem Blick. Es geht ihm nicht gut. Nach einer Weile verschüttet er den Kaffee, ich bemerke die verräterischen Zuckungen, er will es nicht wahr haben, will die Notfalltablette nicht annehmen.

Dann fällt das Ei unter den Tisch, endlich akzeptiert er das Rivotril. Ich streichle ihm beruhigend den Rücken. Erbarme Dich, Herr, hilf ihm!

Ich geleite ihn zum Sofa, erst wehrt er sich, vor dem Sofa knickt er ein, gut, dass ich ihn stützen kann. Aufatmen, geschafft. Sobald er sich hinlegt, ist die Gefahr vorbei.

Unsere Spitex Frau kommt heute fast eine halbe Stunde früher als sonst. Ich war noch am Telefon mit Pauls Schwester Ruth, die ich über seinen Gesundheitszustand aufklären musste. Ich bedeute der Spitex-Frau, sie möge heute ganz ruhig sein im Umgang mit Paul. Dann kam ein Mail von Andy, er werde mich besuchen.

Vor unserem Eingang liegt die Kacke eines Fuchses, man sieht noch Eingeweide und das Pelzchen einer Maus, die Schädelknochen, ein unverdautes Maiskorn.So einfach lässt sich das nicht beseitigen. Vorsicht ist geboten, man weiss ja nie, an welcher Krankheit das Tier gelitten hat. 

Ich nehme ein Stück festen Kartons, eine Zeitung und schiebe die Kacke so gut es geht aufs Papier, dann in den Abfallsack. Eklig! Nun muss ich Wasser kochen, um die Reste wegzuspülen.

Ein Geburtstag kann ganz schön anstrengend sein. Ruth war bereits der vierte Anruf. Bald kommt Emma, dann Andy mit seiner Frau. So gross die Freude, so gross die Anstrengung. Und ich bin noch immer nicht ganz bei Kräften, obwohl es schon besser geht. 

Die Besuche sind gegangen, Emma war sehr anstrengend. Sie redet viel, viel zu viel, Paul hat keine Chance mit seinen Gedanken nachzukommen. Ab und zu unterbreche ich sie, damit Paul nach Möglichkeit auch etwas sagen kann.

Endlich begreift sie, dass man Paul direkt ansprechen und ansehen sollte, damit er sich nicht übergangen fühlt.

Andy und Fränzi brachten eine feine Linzer Torte. Ich war zu müde, um selbst zu backen. Insgeheim hatte ich gehofft, dass die Enkelin ihre Kreativität walten lassen würde. Sie ist eine Meisterin im Torten dekorieren.

Der Bauer hat das Maisfeld geerntet, jetzt kann ich den Wald wieder sehen! Wohltuend, dieser weite Blick über die Felder hinauf zum Wald. Meine Blumen verblühen. Ja, der Sommer ist vorbei, schon wieder einer weniger in meinem Leben. Wie schnell das Leben dahineilt!

Erst war da noch ein Wickelkind in der Nachbarschaft, nun verlässt die junge Frau früh morgens das Haus, um in die Lehre zu gehen. Ich staune und freue mich, wie jedes seinen Weg findet. Auch Simeon, der Pflegesohn der Nachbarn besucht bereits das Gymnasium in Wabern und ist ein gut aussehender junger Mann.

Ich nehme mein Notebook und spiele. Ach, das lenkt ab von wehmütigen Gedanken, heute wurde mir bewusst, dass Paul und ich im Dorfkern neben der 88-jährigen Christa die ältesten Einwohner sind. Als wir vor 18 Jahren einzogen, lebten noch meine Eltern, Tante Ruth, Hans, Geschwister S., Ruth und Hermine, und uns gegenüber wohnten Magdalena und Ernst.

Oh, wie alt die mir alle vorkamen! Und nun nähern wir uns auch schon der 80er-Grenze. Meine Eltern waren damals 85 – die meisten der Nachbarn etwa im selben Alter. Sie alle leben nicht mehr.

Eine grosse Traurigkeit beschleicht mich. Beim Nachtessen denke ich an die Nacht. Ach, wie gerne möchte ich wieder einmal ungestört schlafen!

Nach dem Nachtessen kommen Margret und Peter mit einer Flasche Wein und Schoggi-Kugeln. Allein ihr Besuch ist eine Stärkung. Und nach dem gemeinsamen Gebet spüre ich wieder neuen Mut, neue Freude und die Traurigkeit ist gewichen.

Auch Paul strahlt. Ihre Zuwendung, Freundlichkeit und Liebe tun so gut. Wie kostbar Freunde sind! (Fortsetzung folgt…)