30. September 2010 – Der Tag beginnt gut
Die abschliessbaren Handgriffe für die Balkontüren wird mein Sohn Andy heute Vormittag in Heimberg abholen, um sie dann zu montieren. Wie beruhigend und wohltuend der Gedanke ist, jemanden zu haben, der mich beschützt.
Mit Andy kann ich auch gut reden (siehe Rilkes Liebes-Version in Folge 26 dieses Tagebuchs) aber das mit dem «berühren» ist auch hier klar kein Thema. Ach, Rilke, was hattest du nur für eine unmögliche Definition von Liebe! Mir ist die von Paulus viel lieber, sie ist treffender.
Die Erkältung liess mich kaum schlafen heute Nacht. Zudem zweimal Paul aufs WC begleitet, trockenes Höschen mit Einlage gebracht – es wird schon bald zu einem eingespielten Ritual. Bin schon dankbar, dass er nun mit Hilfe der Nachtlichter den Weg auf die Toilette besser findet. Ich fühle mich elend, schwach, krank.
Paul macht das Frühstück ganz allein. Der Tag beginnt gut. Es dauert wohl eine halbe Stunde, doch lieber langsam als gar nicht. Nun muss ich ihn auf die neuen Türschlösser vorbereiten.
Wie sag‘ ich es ihm bloss? Wieder diese Zwickmühle, ich mag ihn nicht überfahren, doch was versteht er noch? Ich versuche es mit der Wahrheit.
Ich erzähle ihm, wie er zweimal nachts durch die Balkontüren auf die Strasse hinaus gegangen war. Wie er geträumt hat und schlaftrunken den Weg zum WC nicht fand. Wie er sich verirrt hat im Schlaf und ich ihn schützen musste, damit er sich bei dieser Kälte nicht den Tod holte. «Wir haben Glück gehabt, dass ich dich fand.»
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Er kann das (wie erwartet) nicht glauben. Er denkt, ich schwindle ihn an. Er ist konsterniert. Ich hätte ihm das gerne erspart. Es ist nun mal ein Problem, sich entscheiden zu müssen: Wahrheit oder Verhüllung, Heimlichkeiten. Noch glaube ich, ihn mit der Wahrheit konfrontieren zu können, doch zweifle ich daran, ob dies in jedem Fall gut für ihn ist.
Für mich schon, denn ich mag ihn weder übergehen noch anschwindeln. Diplomatie ist eben halbe Wahrheit und das ist dennoch Lüge.
Das macht den Alltag so mühsam, jede Information muss gefiltert werden, jede Aussage wird zensuriert – schädlich oder nicht. Nützlich oder doch nicht. Verständlich oder verwirrend.
Wie bei der Kindererziehung, da muss man auch immer überlegen und prüfen. Ein wichtiger Unterschied: Kinder hat man, wenn man jung ist. Mein Problem ist, dass ich eigentlich eine «Schonzeit» bräuchte.
Auch ich bin müde geworden, etwas langsamer im Denken, ich möchte endlich meine Ruhe haben. Doch ich bin in einer neuen Berufslehre gelandet – Pflegerin eines dementen Menschen. Rund um die Uhr. Und das schon seit mindestens vier Jahren.
Ein «Laufen wie auf einem Minenfeld» habe ich unsere Beziehung vor drei Jahren genannt – immer überlegen müssen, wo und wann es als nächstes knallt. Mühsam ist der Umgang mit ihm, längst ist ein Miteinander dahin. Ich bin allein auf mich gestellt und habe dazu noch eine Sonderaufgabe gefasst.
Wer kann mir das nachfühlen? Wer fühlt eigentlich mit?
Ich hätte ihn schütteln können. Später, durch einen Hinweis an die Ärztin in seiner Praxis, hat er von ihr eine Lektion erhalten, wie man mit Angehörigen umgehen sollte. Sie hatte unsere Situation sogleich erkannt und gab mir viele gute Tipps.