Eigene Bedürfnisse achten als pflegende Angehörige
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Das Tagebuch (85)

Wo bleiben die eigenen Bedürfnisse?

»Morgen werde ich also 77. Mir gefällt diese Zahl. Elf mal sieben. Sieben mal elf. Dankbar blicke ich auf mein Leben zurück.« U. Kehrli

Frau Kehrli wird siebenundsiebzig Jahre alt. Ihre Gedanken kreisen um Abschied nehmen, Gemeinschaft und Hingabe an Gott. Und darum, dass vor lauter Hilfsbereitschaft ihre eigenen Bedürfnisse zurück stehen müssen. Immer noch, nach all den vielen Jahren.

13. Oktober 2013 – Jesu geh voran

Plötzlich ist es da, das Lied, mein Lied, das mich seit der ersten Schulklasse begleitet hat. Das Heidi Buch wurde uns vorgelesen, die Lieder, die Heidi der blinden Großmutter vorlas. »Es wird jeweils so hell in mir«. Ich lese die Verse im alten Kirchengesangsbuch meiner Mutter.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Wie damals – kaum konnte ich lesen, nahm ich dieses Büchlein und eines Abends wurde es auch in mir hell. Die Worte Jesu berührten mein Herz, er kam mir nahe, ich übergab ihm mein Leben, wir schlossen einen Bund.

Er hat ihn nie gebrochen. Ich dagegen schon. Und heute Morgen fließen Tränen der Rührung über diese Treue Jesu. Und über die Worte: Tu uns nach dem Lauf deine Tür auf.

Was wird er mich wohl fragen, wenn er mir die Tür aufmacht? Ob ich »brav« war? Fragt er mich nach meinen guten Taten? Oder nach all den Fehlern, die ich im Leben gemacht habe?

Je älter ich werde, desto mehr sehe ich ein, dass ich nie vor solchen Fragen bestehen würde. Ohne die Begnadigung durch Jesus würde ich haushoch verworfen. Durchgefallen. Nicht bestanden. Aber ich denke, er wird mich fragen: Hast du mich lieb?

Ja, Herr, ich liebe dich. Du hast mich aus aller Dunkelheit, Zerrissenheit heraus gerettet, hast mich durch alles Schwere hindurch getragen. Deine Treue steht immer wieder in großer Dankbarkeit vor mir. Und du trägst mich weiterhin durch alle dunklen Täler.

24. Oktober 2013 – Ultimo 76

Eigentlich bin ich schon seit Neujahr auf dem Papier 77-jährig. Immer werde ich um dreiviertel Jahre älter gemacht oder positiv gesagt, vorbereitet auf den nächsten Jahresring. Weder habe ich ein Facelifting hinter mir noch manche Schönheitssitzung. An einer Hand kann man die abzählen. Damals noch Brauen zupfen – die sind nun von allein ausgegangen. Sollte sie eher mit einem Stift nachziehen.

Am liebsten schaue ich mich im Spiegel ohne Brille an, dann sehe ich keine Falten und überhaupt, kommt es darauf an?

Morgen werde ich also 77. Mir gefällt diese Zahl. Elf mal sieben. Sieben mal elf. Dankbar blicke ich auf mein Leben zurück, etwas wehmütig vielleicht im Gedenken an all die Menschen, von denen ich mich im Laufe der Zeit trennen musste. Durch Tod, Distanzen oder einfach durchs Auseinanderleben. Jeder Mensch ging seinen Weg, man sah sich nicht mehr und andere teilten meinen Alltag.

Loslassen, Abschied nehmen, das sind nun die Themen, die mich beschäftigen. Früher waren es großartige Pläne, was man gern hätte und möchte, würde gern einmal, ja? Wann? Passwanderung entlang der Berner Alpen – ade; Pilgerweg durch Frankreich, Spanien – zu anstrengend geworden.

Etliche Malpapiere warten immer noch auf die Werke, die in meinem Herzen ruhen. Unverarbeitete Manuskripte, Berge von Stoffresten, Wolle, Faden, Bänder warten geduldig und füllen die Regale in meinen Schränken. Ich werde mal. Ha, das ist echt nicht mehr realistisch.

Was fange ich eigentlich mit meiner Zeit an?

Viel Eigenes bleibt gar nicht, neben den Besuchen im Heim, dem Haushalt, Gemeinschaft pflegen mit Angehörigen, Freunden, Emma betreuen, einsame Witwen besuchen. Ich fühle mich in Beschlag genommen von den Anliegen anderer, dann bin ich zu müde, um das zu tun, was ich eigentlich möchte.

Letzter 76-er Tag. Was wünsche ich mir eigentlich am innigsten? Kurz gesagt, immer wieder: Im Willen Gottes leben, mich von ihm leiten lassen, hören, was er mir aufträgt, mich überraschen lassen von seinen Wegen für mich. So bete ich gern:

Herr, bitte übernimm Du die Regie, ich vertraue mich Dir in allem an. Was sich sträubt und sich widersetzen möchte, übergebe ich Dir ganz besonders. Denn echt, Herr, Dein Wille, Dein Plan für mich ist das Beste.

Es klappt eben nicht jeden Tag. Das sind dann so zerronnene Stunden, nutzlos vertrödelte Zeit, gestresste Tage.

Das Schönste überhaupt ist Freude zu bereiten. Dann hüpft auch mein Herz. Einen Menschen zu beglücken ist eigenes Glück.

Das Geheimnis eines erfüllten Lebens. Egoisten können sich wohl für Momente befriedigen, aber der wahre Frieden, die Lebensfreude kann man sich nicht erkaufen, nicht mit Vergnügungen und Kaufrausch. Sie verebben bald und münden wieder in eine Leere. In Frust und neuen Begierden. Sei es mit Essen, Rauchen, Konsum, Ablenkungen.

Herr, ich danke Dir für mein Leben.

25. Oktober 2013 – Elf Mal Sieben

Nun ist es so weit. Um Viertel vor sieben Uhr beginnt mein neues Lebensjahr. Seit fünf Uhr bin ich wach, froh erwacht, mit einem Loblied auf dem Herzen.

Eine Fröhlichkeit erfasst mich, schon gestern Abend begann ich mit den Vorbereitungen, kann ja sein, dass ich jemanden bewirten darf, der mich besucht. Monika schenkte mir gestern eine selbst getöpferte Lampenkugel, die nun meinen Wohnraum erhellt. In ihrem Licht durfte ich das zweite Geschenk auspacken: einen Gartenkalender.

Mein Blick zum neuen Garten lässt mein Herz erneut vor Freude hüpfen.

Dank erfüllt mich über alles, was ich im letzten Jahr verändert habe. Mutig die beiden Gärten neu gestaltet, alles Alte ausgerissen! Weder Aufwand noch Kosten gescheut, nur Schönes, Praktisches vor Augen. Ein Lobpreis Gottes sollte es werden und es ist uns gelungen. Monika hat es ermöglicht.

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Überwinden, sich immer wieder aufmachen, gestern, nach dem schwierigen Besuch bei Paul machte ich mich auf einen Waldspaziergang. Dann kurz bei Doris reingeschaut, sie hatte gerade gebacken, auch für mich ein Brot zum Geburtstag. Dann Äpfel gerüstet für einen Chanukka-Kuchen, den Tisch mit dem wunderbar gestickten Tischtuch gedeckt.

Auch das gehörte im letzten Jahr zum Überwinden. Etwas fertig machen, beenden. Einmal gekauft im Ausverkauf, begonnen mit Elan und dann wegen vielen anderen Plänen auf die Seite gelegt und liegen gelassen.

Das wird mich nun begleiten, dieser Wunsch nach Loslassen, fertig machen, was einmal begonnen, oder auch endlich anpacken, was ich gern tu. Malen gehört dazu. Schreiben auch. Doch mein Alltag ist immer noch zu sehr verplant.

Um halb acht klopfte Urs fein an die Türe. Strahlend tritt er ein, beschenkt mich mit guten Wünschen und zwei Teemischungen. Seine Treue berührt mich immer wieder. Er ist ein kostbarer Musiker-Kollege, wie oft schon hat er mich getröstet mit treffenden Worten, Weisheit und Einfühlungsvermögen. (Fortsetzung folgt …)