13. Januar 2012 – Aufgewühltes Meer
Dies steht fest: Je älter man wird, desto stärker verändert sich auch die körperliche Kraft. Die nimmt spürbar ab und das kann der Kopf nicht verstehen. Da rechnet man immer noch mit den früheren Möglichkeiten. Und ist ständig frustriert.
Langsam lernt man die Kräfte einteilen, schaltet mehr Ruhepausen ein, portioniert die Anstrengungen. Aber das dauert, nach völliger Erschöpfung erkennt man endlich: Es muss sich was ändern im Tagesablauf.
Völlig überfordert bin ich mit den Besuchen bei Paul. Obwohl nur noch an fünf bis sechs Tagen die Woche, ist mir auch dies zu viel geworden.
Ob er es überhaupt schätzt? Ist es nicht vielmehr ein Stochern in Wunden?
Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich jetzt Hilfe brauche. Wie ein aufgewühltes Meer komme ich mir vor, mit brausenden Sturmwogen, aufschäumend rebellisch am Felsen zerschmetternd. Ich werde herumgeworfen, willenlos mich den Kräften ergebend.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich muss mich neu erfinden. Es ist höchste Zeit, mich zu lösen, ich muss lernen, ihn loszulassen, ihn in die Verantwortung anderer Menschen übergeben. Er scheint dort manchmal schon recht glücklich zu sein. Nimmt sich auch der anderen Mitbewohner an. Ist hilfsbereit den Pflegenden gegenüber.
Ich darf das nicht mehr mit dem Alltag früher hier in dieser Wohnung vergleichen. Oder mit seinen Fähigkeiten, die er vorher hatte. Auch das muss ich loslassen. Es fällt schwer. Ich kann nicht auf einmal alles austilgen, was war, und annehmen, wie es heute (noch) ist.
Noch. Dieses allgegenwärtige Wort im Alterungsprozess. Ich kann noch. Treffend, aber hart. Zuletzt heisst es dann nur noch: Sie atmet noch. Ihr Herz schlägt noch. Sie ist noch stabil. Sie kann noch selbständig essen, stehen, noch, noch. Bis gar nichts mehr geht. Unabänderlich steuert der Mensch seinem totalen Zerfall entgegen.
22. Januar 2012 – So gemein
Obwohl ich viel Grund zur Dankbarkeit habe und versuche, mich nicht gehen zu lassen, kann ich kaum mehr durchhalten. Spontan machte ich mich kurz nach acht Uhr bereit für den Gottesdienst. Doch nach Duschen und Frühstück war ich wieder so müde, flach, ich musste mich eine Weile hinlegen.
So kann es nicht weitergehen. Nach dem Gottesdienst fühlte ich mich so elend, dass ich nur noch ins Auto flüchtete, nach Hause musste! Ach, und die Frage von Bruno, ganz nebenbei: Und, wie geht es Paul? – sie klingt bitter nach.
Wer fragt noch, wie es um mich steht? Wie ein Widerhaken bleibt dieses ewige nur nach Paul Fragen in mir stecken.
So geht es nun seit Monaten. Zusammen mit Paul verbleicht mein Leben immer mehr in einer düsteren Nebellandschaft. Und dauernd dieses flüchtige Fragen: Wie geht es Paul?
Paul sitzt im Wohnzimmer, freut sich über meinen Besuch, Umarmung, Küsschen, dann schweigt er wieder. Ich warte ab, lasse ihm Zeit, das auszusprechen (so gut er es eben kann), was ihn bewegt. Nach einer Weile bekommt er sein Dessert, Torte, später Kaffee. Er ist fröhlich, geniesst die Torte.