30. März 2011 – Ein freier Tag
Heute habe ich Angst um Paul, als er weggeht. Tut so weh, ihn so hilflos zu sehen. Auch wenn ich froh bin um den freien Tag, befällt mich jedes Mal eine grosse Traurigkeit. Geht alles gut? Findet er den Weg noch?
Ich rufe an im Tagesheim. Ja, er ist angekommen. Ich bitte die Leiterin zu beobachten, ob er noch Zuckungen hat, dann bitte sofort ein Rivotril geben. «Schöne Ferien, also die nächsten drei Wochen kommt er nicht. Danke für alles.»
Dann ein Mail an Seewinkel, wo Paul seine Ferien verbringen wird. Ob ich was anzahlen soll? Wenn Paul nicht ständig um mich herum ist, kann ich vieles erledigen. Zahlungen machen, Schreibtisch aufräumen – es bleibt so vieles liegen und macht mir ständig Druck.
Am meisten beunruhigt mich, dass so kurz vor den Ferien noch an Pauls Medikamenten rumgepröbelt wird. Fühle mich so hilflos. Eine weitere Spannung, die es auszuhalten gilt.
Paul wird sich freuen, wenn er das fehlende Teilchen einfügen kann. Für die Ferien gebe ich ihm das angefangene Puzzle mit, in ein Tuch eingerollt. Die Schächtelchen mit den nach Farben sortierten Puzzles sind auch bereit. Morgen also der Tag X. Schweres Herz, Angst, Beklemmung, Druck. Was habe ich uns da bloss eingebrockt!
1. April 2011 – Tag X
Heute ist es so weit. Pauls Ferien beginnen. Frühstück, alles läuft gut. Er erfasst, dass wir heute nach Thun fahren. Ich bin so dankbar, dass es nicht «heimlich» geschehen muss, er hat verstanden, wir haben gemeinsam die Koffer gepackt, an alles gedacht.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Die Fahrt nach Riggisberg zu Fränzi ist ein wunderbares Erlebnis, die Berge, frisch verschneit, strahlen in der Frühlingssonne. Auch Paul geniesst die Fahrt. Heute stören mich seine Kommentare nicht, pass auf und so. Aber es ist mir schwer ums Herz. Ich fühle es wird für ihn nicht einfach sein, sich am neuen Ort einzugewöhnen, doch ich habe Vertrauen.
Der Empfang ist freundlich, der Heimleiter offeriert uns gleich Kaffee, vom Aufenthaltsraum aus sehen wir den See, die Berner Alpen. Fränzi begleitet Paul mit einer Pflegefachfrau in sein Zimmer und hilft beim Auspacken und Einräumen.
Derweil unterhalte ich mich mit der Pflegefachfrau, die für die Medikamentenverwaltung zuständig ist. Sie ist freundlich und vertrauensvoll, ich vollziehe die «Stabübergabe». Ich fühle mich erleichtert, das wird schon gut gehen. Paul verabschiedet sich kurz von mir und geht an den Tisch, bald gibt es Mittagessen.
Fränzi lädt mich zu sich zum Mittagessen ein, die Kinder haben das Essen schon vorbereitet, ich geniesse ihre Gesellschaft.
Das beklemmende, mulmige Gefühl bleibt dennoch. Ich bin da und doch nicht da. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu Paul. Mir ist elend.
Ich geniesse es, allein im Auto zu sitzen, die Fahrt durch den Wald, die Ruhe. Auch die Gespräche mit Hedi tun mir gut, ich führe sie im Rollstuhl im Garten herum, ich kann mir Zeit lassen, ich werde nicht getrieben, gedrängt nach Hause zu müssen.
Dann endlich nur an mich denken. Langsam ist es Zeit meine eigene Reise vorzubereiten, ich freue mich auf die zwei Wochen mit Andy im Tessin. Gemütlich setze ich mich im Wohnzimmer hin, mit einem Glas Weisswein. Auf- und durchatmen, Ruhe geniessen, mich erholen. Zu mir selbst finden.