Es ist Zeit, Abschied zu nehmen - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (93)

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen

Ich wünsche mir für Paul die baldige Erlösung von seinen Leiden und hoffe dabei nur eines: ein friedliches Hinübergleiten, ohne Qualen. Möge er in meinen Armen gehen dürfen. 

11. Mai 2015 – Endgültig 

Schon früh bin ich wieder bei Paul. Er hatte eine ruhige Nacht. Im Gang höre ich seine Proteste. Eine Pflegende will ihm die Sturzhose anziehen? Sie redet von mobilisieren! Er wehrt sich, klagt und jammert. Diesmal mische ich mich ein, er sei zu schwach, um herumzugehen. Er brauche jetzt eher Ruhe. Muris kommt, sein Lieblingspfleger, dieser stimmt mir zu. 

Gespräch mit dem Arzt: Es sei Zeit, Abschied zu nehmen. Ja, ich weiss. Wünsche mir für Paul die baldige Erlösung von seinen Leiden und hoffe nur eines: Ein seliges Hinübergleiten, ohne Qualen, möge er in meinen Armen gehen dürfen. 

Ein unerklärlicher Friede erfasst mich. Ich bin eng an Pauls Seite, sein Kopf ruht auf meinem Arm. Er atmet regelmässig, ruhig. Es klopft, die Pflegende bringt die Sauerstoffflasche, ich winke ab. Sie geht. Paul braucht das nicht, bloss Ruhe.

Plötzlich wird er unruhig, seine Hände greifen wieder nach dem Bettgestell. Es ist gut Paul, du darfst gehen… Ich liebe dich…Ich danke dir… Jesus ist dein Herr. Sanft fächere ich ihm mit einem Blatt Papier Luft zu, er beruhigt sich. Nach und nach entspannt er sich, das sich-festhalten-wollen löst sich, Kraft und Farbe weichen zusehends aus seinen Händen, sie sinken entspannt zur Seite.

Die Atmung wird unregelmässig, dann, nach einer Weile, hört sie ganz auf. Es ist still geworden, sehr still. Paul ist gegangen. Ein seliges Hinübergleiten in meinen Armen. Tiefer Friede erfüllt mich, ein heiliger Augenblick.

Ich kuschle mich in innigster Umarmung an ihn. Noch fühle ich die Wärme seines Körpers, nehme sie in mich auf. Längere Zeit verharre ich so an seiner Seite, Dankbarkeit erfüllt mich, er durfte im Frieden hinübergleiten, Er ist erlöst! Seine Leiden sind vorbei! Es ist 11 Uhr 22.

Es klopft. Sela schaut fragend, scheu herein. Ja, komm nur. Sie umarmt mich, jetzt erst fliessen die Tränen. Ihre Umarmung tut so gut. Sie hatte Paul sehr lieb, verstand sich gut mit ihm. Oft begleitete er sie bei ihren Rundgängen durch die Wohngruppe, leerte Papierkörbe, wischte den Boden. 

Der Arzt kommt, spricht mir sein Beileid aus. Nun ist ihr Wunsch in Erfüllung gegangen, er konnte im Frieden sterben. Mein Herz ist mit grosser Dankbarkeit erfüllt: Endlich sind Pauls Leiden vorbei! Er ist erlöst! Und ich durfte bei ihm sein!  

Andere Betreuende kommen, umarmen mich, sie sind mir die letzten Monate zur Familie geworden. Wir sind zusammengewachsen zu einem guten, verlässlichen Team, ich gehörte dazu. Ein wohltuendes, mitfühlendes Miteinander. 

16. Mai 2015 – Durchatmen 

Am sechsten Tag danach: Ich fahre ins Läbeshuus Heiligenschwendi. Muss abschalten, gehe nicht mit dem Auto. Bewusst setze ich meine Schritte zwischen meiner Wohnung und der Bahnstation. Bewusst setze ich mich im Zug auf die linke Seite, will das Pflegeheim sehen und Abschied nehmen. 

Mit meinem Aufenthalt in Heiligenschwendi will ich ein Zeichen setzen zu meiner Bereitschaft des Abschiednehmens und zum Neuen. Im Zug kann ich ungestört meinen Gedanken nachgehen. Ja, man unterschätzt wohl die Qualen des scheibchenweisen Abschiedes. Die langen Jahre der Ungewissheit, dann sich dauernd neu anpassen müssen an die Veränderungen im Charakter, im Gesundheitszustand. Es gibt kein Rezept, wie damit umzugehen ist.

Jeder Betroffene ist anders, jede Demenz verschieden. Sich immer auf Neues einstellen müssen, neu herausfinden, wie dem geliebten Menschen zu begegnen ist – das ist wie Gehen auf dünnem Eis.

Immer wieder bricht man ein, versucht sich verzweifelt hochzurappeln. Und immer die Trauer, die an deiner Seite geht. 

Wohltat gestern: Ich ging ins Pflegeheim, um die Blumen im Sarg zu erneuern. Das Schmücken mit frischen Blumen tat mir gut. Ich hatte auch Efeu mitgebracht. Auf das Kissen legte ich die grossen dunkelroten Rosen, daneben noch paar Blüten- und Efeublätter. Ich bin froh, dass ich das selbst machen kann. Noch etwas tun. Und jedes Mal wieder danken für die guten Jahre, die wir zusammen verbringen durften. 

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

In den zehn Jahren der Krankheit litt ich unter vielen Ängsten. Der Abschied von zu Hause, die Trennung, das Loslassen in die Hände fremder Menschen im Pflegeheim. Entsetzliche Gedanken, Druck, Qualen.

Da kam der Urs mit der Geschichte vom »Barmherzigen Samariter« gerade rechtzeitig: Dem war es auch nicht möglich, beim Verletzten zu bleiben. Er musste ihn der Herberge übergeben, ging ihn besuchen, bezahlte dem Wirt die Kosten der Betreuung. Dieser Vergleich half mir sehr. 

Jeder Anruf aus dem Pflegeheim hatte mich aufgeschreckt. Mal war er hingefallen, dann war es Fieber, einmal schnitt es ihm das Ohr beinahe ab, keiner wusste, wie der saubere Schnitt entstehen konnte. Eine hervorstehende Fussleiste aus Metall?

Dann war da das Leiden mit den abgebrochenen Zähnen, wo die Wurzeln drinnen blieben. Sollte man unter Narkose diese Stümpfe entfernen? Oder mit dem Invaliden-Transport zum Röntgen. Dann diese Platzwunde nach einem Sturz, mit der Ambulanz in der Nacht in den Notfall eines Spitals. Dann immer wieder mal hohes Fieber, Erbrechen, Durchfall. 

Jedes Mal war da die Frage: Wie treffe ich ihn heute an? Wird er überhaupt von mir Notiz nehmen? Es kam vor, dass er einfach durch mich hindurchschaute, weiter ging und mich stehen liess. Oder er schlummerte, öffnete kurz die Augen, döste weiter. Kam jedoch eine Betreuende herein, konnte er ihr strahlend zuwinken.

Abschotten gegen mich, so kam es mir vor. War er wütend auf mich, weil ich ihn im Heim lassen musste? Was ging in ihm vor? Ich musste mich davor schützen, zu glauben, dass er mich ablehnte.Lieber keine solchen Gedanken. Was helfen sie ihm? Und wie schädlich sind sie für mich! 

In Thun warte ich auf den Bus nach Heiligenschwendi. Ich sehe einen zerlumpten Mann, etwa 50-jährig, auf mich zukommen. Er ist verunsichert, setzt sich dann doch auf die Bank neben mich. Nach einer Weile spricht er mich an, ob ich ihm eventuell Geld gäbe für einen Kaffee.

Mitgefühl packt mich, ich segne ihn, spreche ihm Mut zu, sich doch nach Jesus auszurichten, der gerade für Menschen in Not auf diese Welt gekommen sei. Er strahlt mich an. Die Botschaft ist angekommen. Und der Batzen für den Kaffee auch. 

Ich entdecke blühenden Flieder, Goldregen, als ob sich meine Augen nach langer Dunkelheit endlich wieder öffneten. Ich kann Sehen, vor allem freue ich mich, dass ich Menschen in Not sehe. 

17. Mai 2015 – Im Läbeshuus 

Gestörte Nachtruhe, höre ich Schritte auf dem Gang oder auf der Terrasse? Ich bin aufgeschreckt aus dem Tiefschlaf. Wo bin ich, woher dieses Geräusch? Bin im Erdgeschoss, ist da ein Einbrecher? Ich lausche angespannt in die Dunkelheit hinein, dann höre ich, wie an einer Türe im Korridor eine Türklinke gedrückt wird. Dann Stille. Es ist zwei Uhr. 

Ein Lied dreht sich seit Pauls Tod dauernd in meinem Kopf: Warum sollt ich mich denn grämen, hab ich doch Christum noch, wer will mir den nehmen? Ich lese wieder die Strophen und werde ruhig. Frieden umfängt mich, ich lösche das Licht, schlafe bald ein. 

Morgens erwache ich müde und matt. Leere in mir, Einsamkeit. Dann kommt das Lied wieder, als hätte ich einen Endlos-Plattenspieler im Kopf. Trost fliesst mir zu und niemand am Frühstückstisch ahnt etwas von der Traurigkeit, die sich heute wieder an mich ketten möchte. 

Zehn Jahre an mich Klammern ist genug! Geh weg, Trauer! Du hast keinen Platz mehr an meiner Seite! Lange genug musste ich zulassen, dass du dich an meine Seite klebtest, musste dich als Teil meines Alltags akzeptieren. Immer kamst du unangekündigt, ich trauerte, nahm diesen Teil des Abschiednehmens an.

Ich übte das Alleinsein bereits, warum sollte ich weiter traurig sein? Paul hat es jetzt gut, er durfte im Frieden gehen, er ist sicher in Jesu Armen. Er braucht mich nicht mehr.

Die Zeit der grossen Ängste, des Mitleidens, ihn anderen Menschen überlassen zu müssen, das immer wieder von ihm weggehen müssen – das ist vorbei. Ich erlitt hunderte von Abschiedsqualen, wo er mitunter wütend und verzweifelt an die Lifttür polterte und nach mir schrie; wo er nicht verstand, dass er bleiben musste und ich wegging.

Wie viele Tränen sind geflossen, beim Weggehen, bei seinen Nöten, bei Krankheit, nach Stürzen, Verletzungen, im Notfall. Jedes Mal erneut diese Trennungsschmerzen, diese Verzweiflung, die Ängste. Wie treffe ich ihn das nächste Mal an?

Anfangs ging ich täglich hin, ich hielt es nicht aus ohne ihn. Wollte ihm helfen mit meiner Anteilnahme. Puzzle setzten wir zusammen, gingen hinaus, spazierten, sassen auf der Terrasse beim Café, machten Ausflüge mit dem Auto. Ich versuchte ihn zu trösten, ihm sein Schicksal zu erleichtern.

Dann – auf Anraten von Betreuenden – nahm ich montags mal frei, um bei Kräften zu bleiben. Später waren es zwei Tage, dann im letzten Jahr auch mal drei. Freie Tage, um mich ans Alleinsein zu gewöhnen, etwas zu unternehmen, das mir die nötige Kraft gab, den Schmerz um Paul auszuhalten. 

Zehn Jahre seit Ausbruch der Krankheit. Lange Jahre des Trauern. Nun muss ich mich dem Neuen stellen. Ohne Paul. Das ist endgültig. (letzte Folge folgt …)