16. Juni 2013 – Erinnerung an einen Traum
Anni möchte meine Notizen lesen, ich drucke sie ihr nach und nach aus. Ihre Meinung über einen Traum, den ich mal hatte, interessiert mich. Die Aggression, die Todesangst, als mich der Lastwagen beinahe erdrückte und ich den Chauffeur verdrosch! Ich warf ihm Worte an den Kopf, die ich sonst nie aussprechen würde. Und einen Menschen schlagen? Undenkbar! Ich erinnere mich selten an Träume. Nun hat Anni mir weitergeholfen. Sie hat eine außergewöhnliche Gabe, sich in Menschen einzufühlen.
Hier der Traum, wie ich ihn noch heute in Erinnerung habe:
Erst schreie ich ihn an: Du Arsch! Dann verhaue ich ihn. Wo immer ich ihn treten kann, schlage ich zu. Ich habe mir vor Verzweiflung fast die Seele aus dem Leib geschrien, ich bin hingefallen, vor einer Mauer, werde umgeworfen vom Anhänger eines großen Lasters, der nun rückwärts auf mich zufährt und mich einzuklemmen droht.
Ich schreie in Todesangst. Dann endlich stoppt er. Wie ich mich erhebe, erfasst mich ein solcher Zorn und eine Verzweiflung, dass ich die schlimmsten Fluchwörter hinausbrülle und mich auf den Fahrer stürze. Wie er so vor mir steht, kommen nur noch Hass und Aggressivität aus mir heraus, und mit voller Wucht, in blinder Wut, schlage ich auf ihn ein, wo immer ich ihn treffen kann. Er lässt alles widerstandslos über sich ergehen.
Die grundlegenden Veränderungen im Leben von Paul und mir und die Verzweiflung, ihm nicht helfen zu können, erklären den enormen Druck, der auf mir lastet. Mir selbst wird bewusst – gleich kommen mir im Gespräch wieder die Tränen –, dass ich verzweifelt bin, dass diese 30-jährige Geborgenheit mit Paul zu Ende ist.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich will es einerseits nicht wahrhaben, andererseits lehne ich mich gegen das Schicksal auf. Endlich hatte ich ein stabiles Zuhause gefunden, einen Menschen, der mich förderte, der auf all meine künstlerischen Begabungen richtig stolz war, mich stets ermutigte.
Paul ließ mir Freiheit, ich dufte sogar allein nach Israel, als er nicht mehr fliegen mochte. Er engte mich nie ein, nahm mir alle schweren Arbeiten ab, ich brauchte mich nur um den Haushalt und als gelernte Sekretärin auch um die Finanzen kümmern. Er pflegte die Kontakte im Dorf, sang im gemischten Chor, war gesellig und ich ging mit ihm, konnte mich an seine Schultern anlehnen.
Zum ersten Mal im Leben hatte ich Geborgenheit und Schutz erlebt, hatte einen lieben, treuen Mann an meiner Seite. Paul hatte auch stets gute Ideen für Ausflüge, Reisen, Ferien. Ich genoß die sorglosen Jahre. Bis, ja eben, bis der Mann B sich zwischen uns drängte und sich seine Persönlichkeit zu verändern begann.
Mit Beginn der Krankheit vor etwa zehn Jahren, zerbröckelte dieses Gefühl der Geborgenheit. Ich wurde verunsichert, wunderte mich über Pauls zunehmende Veränderungen. Ich wollte meine Sicherheit nicht loslassen müssen, ich wollte dies alles nicht wahrhaben, verdrängte die Wahrheit.
Meine Hilflosigkeit offenbarte sich in versteckter Angst und Aggression. Die kam im Traum hoch. Wut, Verzweiflung, Hass auf was, auf wen? Auf das Schicksal, auf Gott, auf den Mann »B«? Alles zusammen! Mein Leben war aus den Fugen geraten, ich suchte einen Rettungsring. Gott einerseits, was denn sonst?