16. Mai 2012 – Schon ein Jahr im Heim
Vor einem Jahr wurde Paul mit der Ambulanz aus unserem Zuhause geholt. Seit Juli lebt er im Pflegeheim in Gümligen. 20 km Hinweg, Autobahn. 20 Minuten Fahrt. Zerrissene Gefühle bei fast jedem Abschied. Er hat sich vom Delir gut erholt, braucht aber Pflege, die ich ihm nicht geben kann. Die Nächte sind unruhig. Keine Chance für die herausfordernde, Kräfte raubende Betreuung zu Hause – das musste ich endlich akzeptieren.
Das Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Stirbt der Partner, ist dies wie eine Amputation. Du verlierst einen Teil von dir. Musst du den Partner im Heim zurücklassen, gleicht es ebenfalls einer Amputation, aber einer auf Zeit. Täglich schneidet man daran herum, lässt die Wunde ein paar Stunden ruhen, dann beim nächsten Besuch wird weiter daran geschnippelt. Eine Art Vivisektion am lebenden Subjekt.
Er spricht und ich kann ihn nicht verstehen, doch einzelne Worte sagen alles aus: Es ist nicht schön, dass du gehst. Mich hocken lässt. Ich weine. Bin traurig. Das darf doch nicht wahr sein. Er erleidet unerträglichen Schmerz. Kommt noch hinzu, dass er eingeschlossen ist. Wie lebenslängliche Haft.
Dann die Mitbewohner, die ihn ärgern, ihm seine Sachen wegnehmen, seine geliebten Puzzle-Bilder zerstören, oder sich auf das von ihm sorgfältig zurecht gemachte Bett setzen.
Es kommt auch vor, dass einer in Pauls Lehnstuhl einschläft. Dann wird er unberechenbar aggressiv. Einer sehr unruhigen Bewohnerin hat er einmal die Tür vor der Nase zugeschlagen, sie wich zurück, fiel beinahe hin. Er hat auch schon seinen Stock erhoben, drohend, wütend.
Er mag es nicht, mit «solchen» Menschen leben zu müssen. Und er kann sich mit den Betreuenden nicht verständigen, auch das löst Unzufriedenheit und Frust aus.
Dann das Nässen. Die einfachen Slipeinlagen nützen nichts, dann muss er auch die Geh-Hose wechseln. Wieder Frust, Scham, Ärger. Verzweiflung auch.
Nun muss er akzeptieren, Windelhosen zu tragen. Demütigend für ihn, weil er oft doch noch begreift, was gerade abläuft.
In letzter Zeit schliesst er oft die Augen, kapselt sich ab. Ich versuche ihn abzulenken, z.B. mit Spazieren gehen. Draussen wird er munter, interessiert sich für jedes Flugzeug, das Streifen am Himmel hinterlässt, hört auch jeden Motorflieger, der auf dem Flugplatz startet. Die Baustelle neben dem Heim ist faszinierend, da beobachtet er die Arbeiter, die Maschinen, den Kran.
24. Mai 2012 – Grosse Erleichterung
Nach zwei Tagen Pause ruft mir die Betreuerin zu: Es geht ihm heute super! Sie freut sich mit mir. Paul sitzt auf dem Bänkli im Gang, leicht vornüber gebeugt. Dann sieht er mich und strahlt. Sein liebes Strahlen. Vielversprechend, denke ich. Wieder einmal etwas Kontakt finden, ihm Nähe geben, meine Liebe zeigen.
Kaffee? Dazu Fruchtsalat. Er mag das. Kaum aufgegessen, muss er auf die Toilette. Er kommt total verwirrt und aufgeregt zurück. Er will mir etwas zeigen: Im Abfalleimer sind seine zerrissenen Windelhosen. Ein Disaster, das ihn die nächste halbe Stunde knickt. Er weint sogar. Er hat etwas kaputt gemacht. Und er habe sich sehr anstrengen müssen, das nasse Zeug abzulegen.
Er schämt sich, dass er «solche Sachen» tragen muss. Er ist verzweifelt, wenn er sich die Hose nässt. Umso schlimmer, weil er es oft gleichwohl noch mitbekommt.