16. August 2013 – Ausgebüxt
Nach dem Mittagessen mit den Angehörigen der Wohngruppe besuche ich Paul. Hochstimmung bei mir, Zufriedenheit bei Paul. Ein Lächeln hier, eins dort, Winken – schon lange habe ich ihn nicht mehr so ausgeglichen angetroffen. Gegen halb vier verabschiede ich mich, er ist fröhlich, winkt mir nach. Die Welt ist wieder mal in Ordnung.
Dann, gegen sieben Uhr abends, ein Anruf aus dem Pflegeheim: Schlechte Nachrichten! Paul ist weg! Seit halb sechs Uhr wird er vermisst, ist unauffindbar. Ich wusste sogleich: Paul ist ausgebüxt! Sein längst gehegter Wunsch geht in Erfüllung.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich sehe sein verschmitztes Lächeln vor mir, Glücksgefühle für ihn. Endlich! Irgendwie freue ich mich mit ihm. Ich habe auch keine Panik mehr, wie früher etwa, als er von zuhause ausriss. Damals packte mich das nackte Entsetzen und die Angst schnitt mir schier den Atem ab.
Die Polizei ruft mich an, will noch Angaben, wo man Paul am ehesten suchen muss. Ich erwähne Ostermundigen oder den Fussweg bei den Treibhäusern, der Bahn-Trasse entlang. Ich komme, helfe suchen in Ostermundigen, wo er früher lebte. Die Nachbarn hier sind orientiert, das Buschtelefon funktioniert. Man kennt Paul, falls er doch mit dem Zug kommen sollte. Ist aber eher unrealistisch.
Autobahn, Ausfahrt Ostermundigen. Absuchen, wo er aufgewachsen ist; zum Bahnhof, dann langsam Richtung Gümligen, dieser Weg ist ihm ja auch bekannt. Noch Benzin auffüllen, sicher ist sicher. Weiterer Anruf von der Polizei, sie wollen nähere Angaben, sie geben mir noch Tipps zum Suchen.
Suchhunde werden in Erwägung gezogen. Nicht nur auf den Spazierwegen suchen, auch daran denken, dass er sich vielleicht irgendwo hingelegt hat oder darauf achten, wo er hätte hinunterstürzen können. Man müsse immer auch mit dem Schlimmsten rechnen, man wisse ja nie. Behutsam will der Beamte mich auf eine solche Situation vorbereiten. Nun wird mir doch mulmig zumute.
Nachdem ich das Gelände ums Heim abgesucht habe, auch die Schächte neben den Wegen, gehe ich zur Wohngruppe. Sonderbar, Paul ist nicht da! Die Leiterin des Heims sieht mich, kommt mir mit hochrotem Gesicht entgegen, die Situation ist ihr peinlich, klar, solche Situationen sind unbequem, auch schmerzlich – draussen lauern so viele Gefahren für Menschen mit Demenz.