Der Alltag wird mühseliger - demenzjournal.com
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Das Tagebuch (9)

Der Alltag wird mühseliger

Die Augenblicke der Normalität sind wahrlich nur noch Momente. Pauls Zustand verschlimmert sich zusehends. Noch immer glaubt Frau Kehrli, dies alles alleine bewältigen zu können. Aber es kommen erste Zweifel auf.

17. März 2009 – Immer schlimmer

Paul leidet sehr darunter, dass er nicht mehr Autofahren darf. Er merkt auch, dass alles viel langsamer geht und er unserem «normalen» Lebenstempo nicht mehr wie früher folgen kann, sei es im Gespräch, wenn wir Besuch haben oder beim Anhören der Nachrichten am Radio oder im Fernsehen.

Haben wir Besuch, räumt er nach dem Essen sogleich das Geschirr ab und geht in die Küche abwaschen. Er kapselt sich ab. Er leidet. Ich leide mit. «15 Tipps für den Umgang mit Demenzkranken» habe ich mir inzwischen aus dem Internet heruntergeladen.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Eigentlich wüsste ich nun genau, wie ich mit ihm umgehen sollte. Liebevoll, verständnisvoll, geduldig sein, nicht argumentieren, sinnlose Diskussionen sollten vermieden werden. Wenn er sagt, es ist ein blauer Elefant im Garten, müsste ich einfach zustimmen. Validation wäre auch angesagt, auf ihn eingehen – in allem. Ich müsste ein Engel sein, um all diese Anforderungen zu erfüllen wenn «Mann B» auftaucht.

Mit meinem «Mann A» erlebe ich immer wieder recht harmonische Tage. Auch wenn wir nur noch lockere Alltagsgespräche führen, aber auch die muss ich nun «filtern», muss sie «mundgerecht» machen, bei allem immer wieder überlegen: 

Ist es eine wichtige Information, kann er sie verstehen, behalte ich das Erlebte nicht lieber für mich, um ihn nicht unnötig zu beunruhigen?

Das strengt an. ich muss auch langsamer sprechen. Mein Alltag steht Kopf. Unsere Beziehung ist kein miteinander mehr, nur noch ein nebeneinander. Er hört nicht zu, lebt in sich selbst, abgekapselt.

Ihn interessiert nur noch, was ihn selbst betrifft. Als seine Frau mit Gefühlen nimmt er mich nicht mehr wahr. Keine Fragen mehr nach meinem Befinden. Ich habe einfach zu funktionieren.

Wichtig ist ihm das Essen, aber es gibt höchst selten mehr eine Anerkennung. Mir fehlen die Streicheleinheiten, seine Liebe, die er jeweils so einmalig nach dem Essen auszudrücken vermochte: «Hast mir wieder fein gekocht, Buseli, danke.»

Oft fühle ich mich einsam und verlassen und bin dankbar, wenn ich Besuch habe.

Da kann ich mich endlich wieder ganz normal auszutauschen über alltägliche Dinge, ohne dieses Filtern aller Aussagen, was mich sehr ermüdet.

Heute war Andy da. Er nahm sich viel Zeit für mich, und nebenbei brachte er mein Outlook auf Vordermann. Wie ein normal sprudelnder Austausch doch gut tut. Andy ist so lieb, hilfsbereit, freundlich und auch klug. Ich bin echt stolz auf ihn. Dankbar, dass er mich auch gern hat.

Irgendwie wird es schon «gehen». Aber eben, mühsam und anstrengend ist der Alltag geworden. Dennoch bin ich für jeden Tag sehr dankbar, der einigermassen normal abläuft.

Die Zukunft blende ich aus, verdränge, was alles noch kommen wird. Habe wohl den «Master» im Verdrängen erworben.

Sobald ich im Internet oder in Büchern über Alzheimer/Demenz lese, wird mir derart mulmig im Magen und eine Panik erfasst mich, dass ich am liebsten von all dem nichts wissen will.

9. April 2009 – Im Ländli

Ferien mit Paul im Hotel. Nach dem Mittagessen rasiert sich Paul mit Schaum. Und er schneidet sich! Er regt sich auf, übermässig, jammert und klagt, hetzt mich nach einem Pflästerchen.

Er beschwert sich, ich mache alles falsch, nein nicht hier, da, und drück nicht so fest und und… Was für ein Aufhebens wegen diesem kleinen Schnitt unterm Kinn! Eigentlich wollten wir um vier Uhr Kaffee trinken gehen.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Ich bin verstimmt. Immer dieselben Szenen! Was ist mit ihm los, was läuft da ab, weshalb benimmt er sich so unmöglich? Bloss wegen ein paar Tropfen Blut. Ob da die Erinnerungen wieder hochkommen, als er als Kind beinahe verblutet wäre?

Ich verlasse das Zimmer, sein Verhalten nervt mich, ich mag mir das nicht mehr anhören. Ja, der Alltag mit Paul ist herausfordernd und sehr anstrengend geworden. Ein Kind kann man zurechtweisen, ihm die Sache erklären.

Bei Paul scheint der Verstand wie verbarrikadiert. Es ist, als ob nur noch er allein existiere. Seine Gedanken und Gefühle drehen sich nur noch um sich selbst. Irgendwie habe ich meinen Paul verloren. Zeitweilig zwar, aber immer öfter.

13. September 2009 – Witzig

Als «Mann A» wirkt Paul zufrieden.Bild U. Kehrli

Frühstück – Paul hat es zubereitet. Dafür bin ich so dankbar, das macht er gut und zuverlässig. Es bereitet ihm auch sichtlich Freude. Gestern Abend – während er vor dem Fernseher schlief – habe ich mir noch eine DOK-Sendung angeschaut. Thema: Land unter im Donau-Gebiet.

Moos heisst die Ortschaft mit kaum 100 Einwohnern. Kurz nacheinander war das Hochwasser gekommen! Früher war das selten, die Flut stoppte vor dem Dorf, nur einzelne Strassen waren betroffen. Zur Freude der Kinder, die mit dem Fahrrad jauchzend durchs Wasser fuhren.

Heute ist Paul gut drauf. Ich kann mit ihm darüber reden. Er nimmt regen Anteil am Gespräch, erinnert sich an unsere Donaufahrt vor drei Jahren.

Zweites Thema war unsere geplante Ausfahrt mit dem Velo heute Vormittag. Wohin? Wie lange? Hat er überhaupt Lust? 

Nach dem Frühstück hole ich eine Deutschland-Karte. Es interessiert mich, wo genau dieses Moos liegt. Bei Strass, soviel wusste ich, nah dem Zufluss der Lech. Sobald ich die Deutschland-Karte auf dem Tisch ausgebreitet habe und es ihm zeigen will, sagt er: «Du, soweit mag ich aber nicht mit dem Velo fahren … » Ich muss leer schlucken. Oh Paul, was geht in Deinem Kopf vor?? (Fortsetzung folgt …)