Das rote Kartonherz - demenzjournal.com
chatbot

Das Tagebuch (94)

Das rote Kartonherz 

Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie erduldet alles. Sie steht alles durch. Mich erfüllt plötzlich eine grosse Freude: Treu, bis dass der Tod uns scheidet. Darüber kann ich jubeln. Ertragen, erduldet, durchgestanden! Wir sind angekommen! Wir haben es geschafft!

19. Mai 2015 – Das rote Kartonherz 

Viele Jahre schon konnte ich mit Paul nicht mehr kommunizieren. Es liegt so viel Unausgesprochenes auf meinem Herzen. So vieles, das mich traurig macht, belastet, bedrückt. Wie gern hätte ich ihm mein Herz ausgeschüttet, alles was mich bewegt mit ihm geteilt.

Wie lange schon konnten wir keine Gespräche mehr führen, Gedanken austauschen! Wie fehlten mir die sprudelnden Gespräche während der Ausflüge, beim Autofahren, am See, auf Wanderungen. Wie lange ist das her! Wie kann ich nun all die mich noch quälenden, belastenden Gedanken loswerden? 

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich werde schreiben! Aus rotem Halbkarton schneide ich zwei grosse Herzen aus, klebe sie an den Rändern zusammen bis auf einen kleinen Einschub. Mit goldenem Filzstift schreibe ich das Hohelied der Liebe darauf. Die Liebe ist geduldig…

Geduld? Tränen fliessen, erlösende Tränen. Tut mir so leid, daran bin ich immer wieder gescheitert. Die Liebe ist freundlich… Wie oft war ich unfreundlich zu ihm! Auch das tut mir leid! Und dass ich über ihn bestimmen musste! Die Ohnmacht des Nicht-helfen-könnens, die Hilflosigkeit ihn nicht zu verstehen.

Dann all diese Selbstanklagen, diese falschen, zu hohen Erwartungen an mich selbst. Schliesslich schreibe ich auf Zettelchen, was er mir wohl gerne gesagt hätte. Obwohl das, was in ihm vorging in den letzten Jahren, was ihn bewegte, was er mir sagen wollte – im Verborgenen bleibt. 

Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie erduldet alles. Sie steht alles durch. Da erfüllt mich plötzlich eine grosse Freude: Treu bis dass der Tod uns scheide! Darüber kann ich jubeln. Ertragen, erdulden, durchgestanden! Wir sind angekommen! Wir haben es geschafft! Wir sind am Ende unseres Gelöbnisses. Paul wollte im Hochzeitskleid aufgebahrt werden. Unser Bund hat gehalten. Dafür bin ich unendlich dankbar, dass ich ihm stets in die Augen schauen konnte, um ihm zu sagen: Ich habe dich sehr, sehr lieb, nur dich allein. 

Die Liebe deckt der Menge Sünde zu, kommt mir in den Sinn. Wie ich das Kartonherz zuklebe, weiss ich, dass Gottes Liebe meine Mängel auffüllt, zudeckt. Ich muss erkennen, es wird nie möglich sein, einem Menschen »gerecht« zu werden, es gelingt uns auch nie, einer Aufgabe »gerecht« zu werden. Es werden immer Mängel bleiben, eine vollkommene Unvollkommenheit! Da darf ich wissen, dass Jesus Christus auch all unsere Mängel auf sich genommen hat und uns seine Vergebung zuspricht. 

Ich lege Paul das rote Kartonherz auf sein Herz. Ein tiefer Friede erfüllt mich. Paul, ich danke dir für unseren gemeinsamen Weg, für all deine Liebe. Ich lasse dich los im Frieden und in grosser Dankbarkeit! 

Nachwort – Diese Hände 

Ein Bild begleitet mich immer wieder: Es gibt heute Kameras, die x-tausend Bilder in der Minute festhalten können. So ungefähr habe ich Pauls Hände in mir aufgezeichnet, während der Sterbestunde, als sie langsam ihre Farbe verloren, erschlafften und kraftlos auf das Bett sanken.

Hände, seine Hände, die ich so liebte! Hände, die mich zärtlich berührten, mich beschützten, die seine warmen Gefühle ausdrücken konnten. Die meine oft kalten Hände erwärmten. Schöne, elegante Hände, die aber zupacken konnten, die ohne Rast immer zum Helfen, zum Arbeiten bereit waren. 

Alles veränderte sich mit Pauls Krankheit. Da wurden es manchmal Hände, die mich hart anpackten, so dass ich Angst bekam, er würde mir die Gelenke brechen. Hände, die mich schlugen, weil ich ihn nachts nicht wandern gehen liess. Oder bei den Abschieden im Heim: Wenn er verzweifelt versuchte, mich am Weggehen zu hindern, sich mit den Händen an mich klammerte. Wenn ich nicht verstand, was er sagen wollte. Wenn ich ihn dort zurücklassen musste. 

In unzähligen Bildern nehme ich Abschied von seinen Händen. Hände, die so vieles vollbrachten, werkten, anpackten, andere Hände umfingen, mit warmem Druck Freundschaft ausdrückten. Hände, die es mit jedem Material aufnahmen, Holz, Beton, Pflastersteinen, allen Farben, auch künstlerisch mit Holzbrennen. Seine Jahre in Afrika, im Urwald als Campmanager, haben ihn wohl sehr geprägt und befähigt für all diese Arbeiten. 

Da war auch seine besondere Gabe mit Erde umzugehen: Als Selbstversorger mit viel Gemüse, aber auch vielfältiger Blumenpracht. Sähe ich all die Blumen, die er aussäte, verpflanzte, begoss, könnte ich die Berge von Gemüse sehen, die er erntete, oh Paul, ich danke Dir für all Deine Liebe!! Du hinterlässt eine grosse, sehr grosse Lücke! 
Gedenken tut gut, aber schmerzt, Danken hilft wieder zu trösten. 

Das ist die Macht der Dankbarkeit: Sie befreit uns nicht nur, sondern hilft uns auch, immer mehr Gutes in unserem Leben zu entdecken und Gott für das Gute zu danken, das wir schon empfangen haben. Auf diese Weise finden wir immer mehr Gründe zum Danken! 

Autor unbekannt

Gebet (W.I.Thomas) 

Ich danke dir, Herr Jesus Christus, dass du auferstanden bist. Du wohnst in mir durch die Person deines Heiligen Geistes. Du hast von mir nie mehr als mein Versagen erwartet, und doch ist mir durch dich Stärke für meine Schwachheit, Sieg für meine Niederlagen gegeben. Du selbst bist die Antwort auf mein ganzes Versagen! Im Glauben erkenne ich eine Zukunft, die du erfüllen willst mit dir selbst und allem, was du in deiner göttlichen Person bist! Du, Christus, bist meines Lebens Leben. Amen.

Ende

Paul.U.Kehrli