19. Mai 2015 – Das rote Kartonherz
Viele Jahre schon konnte ich mit Paul nicht mehr kommunizieren. Es liegt so viel Unausgesprochenes auf meinem Herzen. So vieles, das mich traurig macht, belastet, bedrückt. Wie gern hätte ich ihm mein Herz ausgeschüttet, alles was mich bewegt mit ihm geteilt.
Wie lange schon konnten wir keine Gespräche mehr führen, Gedanken austauschen! Wie fehlten mir die sprudelnden Gespräche während der Ausflüge, beim Autofahren, am See, auf Wanderungen. Wie lange ist das her! Wie kann ich nun all die mich noch quälenden, belastenden Gedanken loswerden?
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich werde schreiben! Aus rotem Halbkarton schneide ich zwei grosse Herzen aus, klebe sie an den Rändern zusammen bis auf einen kleinen Einschub. Mit goldenem Filzstift schreibe ich das Hohelied der Liebe darauf. Die Liebe ist geduldig…
Geduld? Tränen fliessen, erlösende Tränen. Tut mir so leid, daran bin ich immer wieder gescheitert. Die Liebe ist freundlich… Wie oft war ich unfreundlich zu ihm! Auch das tut mir leid! Und dass ich über ihn bestimmen musste! Die Ohnmacht des Nicht-helfen-könnens, die Hilflosigkeit ihn nicht zu verstehen.
Dann all diese Selbstanklagen, diese falschen, zu hohen Erwartungen an mich selbst. Schliesslich schreibe ich auf Zettelchen, was er mir wohl gerne gesagt hätte. Obwohl das, was in ihm vorging in den letzten Jahren, was ihn bewegte, was er mir sagen wollte – im Verborgenen bleibt.
Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie erduldet alles. Sie steht alles durch. Da erfüllt mich plötzlich eine grosse Freude: Treu bis dass der Tod uns scheide! Darüber kann ich jubeln. Ertragen, erdulden, durchgestanden! Wir sind angekommen! Wir haben es geschafft! Wir sind am Ende unseres Gelöbnisses. Paul wollte im Hochzeitskleid aufgebahrt werden. Unser Bund hat gehalten. Dafür bin ich unendlich dankbar, dass ich ihm stets in die Augen schauen konnte, um ihm zu sagen: Ich habe dich sehr, sehr lieb, nur dich allein.
Die Liebe deckt der Menge Sünde zu, kommt mir in den Sinn. Wie ich das Kartonherz zuklebe, weiss ich, dass Gottes Liebe meine Mängel auffüllt, zudeckt. Ich muss erkennen, es wird nie möglich sein, einem Menschen »gerecht« zu werden, es gelingt uns auch nie, einer Aufgabe »gerecht« zu werden. Es werden immer Mängel bleiben, eine vollkommene Unvollkommenheit! Da darf ich wissen, dass Jesus Christus auch all unsere Mängel auf sich genommen hat und uns seine Vergebung zuspricht.
Ich lege Paul das rote Kartonherz auf sein Herz. Ein tiefer Friede erfüllt mich. Paul, ich danke dir für unseren gemeinsamen Weg, für all deine Liebe. Ich lasse dich los im Frieden und in grosser Dankbarkeit!