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Das Tagebuch (46)

Ärztemarathon

Ach, was wird nicht alles am Menschen versäumt, vertrödelt, verdummt. Mich wühlt das alles auf, wenn ich an die letzten Jahre denke – das Zusammenleben mit Paul war mehr als schwierig, unser Leben ist versaut worden, krass ausgedrückt. Was hätte man verhindern können? Bild U. Kehrli

Seit Jahren versucht Frau Kehrli sich mit der Demenz-Diagnose ihres Mannes abzufinden. Ein Arzt behauptet nun, seine Einschränkungen seien die Folge eines Hirnschlags und ungeeigneter Medikamente. Ist Pauls Zustand auf eine falsche Behandung zurückzuführen? Frau Kehrlis Welt steht Kopf.

5. Mai 2011 – Beim Neurologen

Der Tag beginnt wie üblich. Kaffee vorbereiten, Duschen, Frühstück. Dann ein Blick auf die Agenda und die Wellen drohen über mir zusammenzuschlagen.

Heute zweiter Besuch beim Neurologen. Zuerst aber Telefon mit Ärztin für Laborberichte, Apotheke, Pauls Knie. Die Rechnung des Garagisten reklamieren (habe kein Benzin einfüllen lassen, Tank war voll, als ich das Auto brachte), und die Liste der Krankenkosten-Auslagen für die Steuererklärung ist noch immer nicht fertig. Zahlungen fällig, Busse pünktlich bezahlen (peinlich: Parkscheibe falsch eingestellt!), Bezahlen des Fahrdienstes und, und … schon wieder Mittagessen planen.

In der Flut all der Verpflichtungen droht meine Insel (das Cellospielen) unterzugehen. Ein Spaziergang ist  auch eine Art Therapie, hat aber nicht dieses die Seele Aufbauende wie mein Cello, das mir Kraft und Trost gibt.

Paul wird vom Neurologen direkt angesprochen. Vollkommen wirr antwortet er ihm, zeigt alle Zettelchen der zu bestellenden Medikamente, legt eines nach dem andern auf den Schreibtisch, sagt, er könne nichts dafür. Ich sitze daneben, verzweifelt, Paul in diesem Irrgarten zu belassen, ohne ihm erklären zu können, um was es geht.

Der Arzt hört ihm zu, sagt kein Wort, belässt ihn längere Zeit in seinen wirren Erklärungen. Ich fühle mich elend, bin wie in einem luftleeren Raum.

Weiss nicht wohin mit meinen Händen, kann kaum atmen, möchte am liebsten davonlaufen. Lasst mich endlich in Ruhe!

Ich schaue immer wieder auf die Uhr. Nachdem wir fast eine halbe Stunde warten mussten, wird es knapp mit der Parkscheibe. Bloss eine Stunde Parkzeit. Will doch nicht schon wieder eine Busse. Schont meine Nerven.

Sicher, die Erklärungen am Bildschirm waren interessant: Die Aufzeichnungen der Gehirnströmungen. Und möglicherweise ist es gut, dass von Tegretol auf das neue Depaktin gewechselt wird, es sei eine Übergangsmedikamentation nötig. Verstanden.

Aber nie weiss ich, was der Arzt wirklich wissen will. Was soll ich sagen, was nicht. Was ist wichtig, was nicht. Hauptthema für mich: Helft ihm und hilf mir!

Wie ich nun aber höre wie der Arzt meint, Paul leide gar nicht an einer Demenz, sondern es seien die Medikamente und der Hirnschlag, die an den Veränderungen Schuld seien, gerät meine Welt durcheinander.

Endlich habe ich mich mit dem Gedanken an die Krankheit Demenz abgefunden und lerne, damit umzugehen – nun wird alles in Frage gestellt. Mir scheint, der Arzt habe sich ungenügend in die Vorgeschichte eingelesen.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich kläre ihn auf: Nach dem Hirnschlag schien Paul fast 100-prozentig in Ordnung. Erst nach etwa eineinhalb Jahren stellten sich Veränderungen in der Persönlichkeit ein, auch Verlangsamung, Schwerfälligkeiten, Antriebslosigkeit. Mühe mit Verstehen und Sprechen. Paul durfte nicht mehr Autofahren.

Ein gründlicher Test hatte zutage gebracht, dass Verdacht auf dementielle Entwicklung bestehe. Ein Verdacht, der dann nach einem weiteren Jahr von der Memory Klinik bestätigt und als mittelschwere Demenz eingestuft wurde.

Doch wie viel Interesse hat der Arzt überhaupt an meinen Aussagen und den früheren Untersuchungen? Er vermutet, dass das Epilepsie-Medikament schuld sei an den Sprachstörungen usw. Ich verstehe im Moment einfach nur Bahnhof. Bin zu erschöpft, um mich noch zu konzentrieren

Ich habe einen Mann A und einen Mann B seit dem Hirnschlag, erkläre ich Dr. P. – Der eine ist mir vertraut, der andere gänzlich fremd. Dr. P. blättert weiter in den Berichten des Inselspitals auf seinem Bildschirm, ich weiss nicht, ob er mir überhaupt zuhört. Dann behauptet er, bisher seien keine EEG-Aufnahmen gemacht worden. Doch, jährlich war Paul mit diesen Elektroden am Kopf untersucht worden, jedes Mal hat er über die verklebten Haaren geklagt!

Wieder so eine haltlose Behauptung, ich bin nun ganz verunsichert. Was soll das Ganze? Hat er nun eine umfassende Anamnese vor sich, oder nur einzelne Puzzlesteine? Will er von mir einen genauen Bericht? Aber worüber?

Die Anzahl der schweren Anfälle mit Hospitalisierung, Wahrnehmungen aus dem Alltag. Aber welcher Art? 

Was soll ich berichten von unserem beschwerlichen, gemeinsamen Weg? Was ist wichtig, was ist nötig? Nein, ich mag jetzt nicht. Tut mir leid. Büro geschlossen.

Wir finden den Draht nicht zueinander. Schliesslich stehe ich abrupt auf. Es hat keinen Sinn. Und die Parkzeit läuft ab. Und ich kann einfach nicht mehr.

Dann der Termin bei der Hausärztin. Die rechte Kniekehle von Paul ist stark angeschwollen. Ich berichte kurz über den Besuch beim Neurologen. Frau K. klärt mich auf, dass sich die Medikamente tatsächlich gegenseitig «stören», so hat Paul über Monate Remeron umsonst eingenommen, da es durch andere Medikamente praktisch wirkungslos wurde. Gift lässt grüssen.

Verwirrung zunehmend … ach, was wird nicht alles am Menschen versäumt, vertrödelt, verdummt. Mich wühlt das alles auf, wenn ich an die letzten Jahre denke – das Zusammenleben mit Paul war mehr als schwierig, unser Leben ist versaut worden, krass ausgedrückt. Was hätte man verhindern können?

Auch die Bemühungen, herauszufinden, was eigentlich Ursache der dauernden Schmerzen in seinem linken Knie mit dem künstlichen Gelenk sein könnte, hat man eingestellt. Er ist ja nur Rentner, sparen auf seine Kosten.

Man hat sich nicht einmal die Mühe genommen, wie bei den Sportlern, eine weitere Untersuchung zu beantragen. Röntgenbilder zeigen ja nicht alles. Soll er doch weiter jammern. Und wir mussten unsere gemeinsamen Wanderungen an den Nagel hängen.

Lesen Sie hier das Interview mit der Autorin Ursula Kehrli

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Jeder noch so kurze Spaziergang wurde Paul zur Last, das Klagen ging mir auf die Nerven. Lieber ging ich allein. Nur wenn er im Garten etwas tun wollte, vergass er all seine Knieleiden, motiviert konnte er einen ganzen Nachmittag herumlaufen, kein Wort von Schmerzen. Erst am nächsten Tag zeigten sich die Nachwirkungen.

Frau K. meldet Paul in der Notaufnahme des Ziegler-Spitals an. Nun auch das noch, es ist bereits halb fünf geworden! Ich sehe es Paul an, es ist nicht zumutbar. Also verschieben wir auf Freitagvormittag. Auch ich schaffe es kaum mehr. 

Nachhause! Mein einziger Wunsch: am liebsten unter die Decke verkriechen. Schlechtes Zeichen, doch ich darf mich nicht gehen lassen. Die Show must go on.

Paul setzt sich an den Stubentisch, Puzzlen ist wieder angesagt, zwei Stunden lang. Ich schaue mir eine DOK Sendung an über die Pioniere der Schokoladeherstellung.

Und vertilge den kleinen Hasen, löse Kreuzworträtsel, zwischendurch gehe ich an den Computer, Live Cam der Vogelbeobachtung anschauen. Höre Vogelgezwitscher, sehe Weiher und kann bei der Fütterung zusehen. Ablenkungen bester Art. Lieber hätte ich es draussen, in freier Natur.

Seufzer. Sehnsucht nach Ruhe – Natur, Berggipfel, Sonnenauf- und untergänge. Ruhe. Ungestörtheit. Ohne Paul. Schrecklich, dieser Gedanke. Aber grosse Sehnsucht nach meinem Paul. Wo er wohl geblieben ist? Was ist noch übrig von ihm? Alles ist überwuchert vom Gift der Medikamente, gar von Schlamperei? – krass ausgedrückt. Oder von meiner erschöpften, gehässigen Art ihm gegenüber? Misserfolg über Misserfolg.

Ach, was ist aus mir geworden? Liebe, guter Wille und das Wissen der christlichen Lehre reichen nicht mehr aus. Ich bin arm, ohnmächtig und hilflos.

Oft sind meine Gebete nur noch Seufzer und Hilfeschreie. Das schlimmste daran ist meine selbstkritische Haltung, die sonst im Alltag durchaus hilfreich ist.

6. Mai 2011 – Marathon

Unglaublich! Hätte man mir gesagt, was noch alles vor mir liegt an diesem Tag, ich hätte erschrocken abgewinkt. Unzumutbar. Zu viel für eine fast 75-jährige Frau. Viel zu viel! Dennoch darf ich staunen: Die Kraft reichte aus, ja, ich konnte noch mehr erledigen als ursprünglich geplant war.

Zehn Uhr im Zieglerspital. Untersuchung von Pauls Knie. Eine eigrosse Zyste sitzt in der rechten Kniekehle, nein, keine Thrombosengefahr, das sehe man doch. Die verächtliche Stimme gilt der Hausärztin, für das nicht erkannt haben. Immer Überlegenheit bekunden, runtermachen inklusive. Hat dieser Arzt das nötig?

Paul ist im Röntgen, gibt mir Zeit für Kaffee und Kuchen. Bin überhaupt bemerkenswert ruhig. Danke allen, die regelmässig für mich beten.

Um halb zwölf Uhr können wir heim. Zuvor noch: Nein, keine Kortison-Spritze gegen die Schmerzen. Immer ein Restrisiko wegen Gelenkentzündung, das würde er, der Oberarzt, nicht machen. Punktieren? Nein, verschaffe nur für kurze Zeit Erleichterung, einzige wirkliche Hilfe sei ein künstliches Kniegelenk.

Paul erblasste. Das hat er verstanden! Das will er unter keinen Umständen, hatte schon beim linken Knie Horrorerfahrungen gemacht: Delir!

Erste Nacht – alle Schläuche abreissen, herumirren im Gang, überall Blutspuren, er lief auf dem frisch operierten Knie!

Dann zweiter Tag – Epilepsieanfall, Notfallstation, schliesslich drei Wochen Reha. Ich musste mit, um weiteren Anfällen vorzubeugen. Er war so überreizt.

Dann all die Jahre immer wieder das Klagen über Schmerzen im operierten Knie, erst letztes Jahr wieder Kontrolle, ohne Befund. Nun sollten er – und ich natürlich auch – das ganze Prozedere nochmals über uns ergehen lassen?

Fünfzehn Uhr, Besprechung in einer Tagesstätte. Über die Autobahn, gut 20 Minuten Fahrt, leichter Stau, parkieren, Paul sofort zur Toilette. Dann Suchen des Gebäudes, mir gehen fast die Nerven durch, wieder Toilette suchen, kaum sind wir im richtigen Gebäude gelandet. Wir sind eine Viertelstunde zu spät.

Die Leiterin empfängt uns sehr freundlich. Eine liebe Person. Ich frage mich, weshalb sie nicht lauter spricht? Wenn sie mich nicht verstehen, sagen sie es mir. Wie bitte, warum sollte er sie darum bitten müssen? Ist doch klar, dass im Alter das Gehör nachlässt.

Ich verstehe sie nur knapp. Ihre leise, sanfte Stimme ähnelt der einer Kindergarten-Tante. So empfand es auch Paul, als er sich auf dem Nachhauseweg negativ über sie äusserte.

Zwischendurch versuchte sie es mit kleinen Witzchen, aber Paul versteht ohnehin von vielem nur Bahnhof, Witze schon gar nicht mehr.

Auch da für mich Fragezeichen. Warum das Gespräch komplizierter machen?

«Wie lange sind sie verheiratet?», Paul weiss es nicht. «Nein, wir sind noch nicht verheiratet, werden es aber bald planen». Sie schaut mich fragend an. Wo wir wohnen, unsere Adresse, weiss er auch nicht. «Das weisst doch du», sagt er zu mir hin.

Das Geburtsdatum? Ja, korrekt, immerhin. Da muss er sich wieder als Versager vorkommen, sie vermerkt alles säuberlich auf dem Fragebogen. Pauls Selbstvertrauen, er, der «Siebensiech», wie er sich gern selbst bezeichnet, bekommt wieder einen Knacks. Wie unsensibel, diese Ausfragerei eines dementen Menschen!

«Die benahm sich komisch», war sein abschliessendes Urteil. Er bezeugte sein Missfallen auch dadurch, dass er einfach aufstand und sich verabschiedete, während Frau B. und ich die anderen Räume besichtigten. Er wartete auf der Terrasse.

Leider war auch das ein Fehler. Im Raum war die Freitags-Gruppe, schwatzte und lachte, er war inzwischen draussen allein und musste schon wieder auf die Toilette.

Auch mich befällt ein ungutes Gefühl, wie ich den kleinen Raum sehe mit den Relax-Stühlen, eng gepackt. Wenn ich mir vorstelle, wie Paul mit den andern zusammen hier Mittagsruhe halten sollte. … Dann die Spaziergänge, wo Paul doch Mühe mit den Knien hat.

Spaziergänge inmitten all der alten gebrechlichen Menschen in Rollstühlen, an Rollatoren, Krücken – ja, ich verstehe, dass er sich hier nicht wohl fühlt. So war es ihm wahrscheinlich auch im Seewinkel ergangen inmitten der alten Menschen, es hat ihm einfach «abgelöscht».

Ein langer Tag. Ein guter Tag. Ein erfüllter Tag. Paul schläft am Fernseher ein. Ich schaue Tierfilme, ich entspanne mich. Und werde – leider – wieder ein halbes Temesta nehmen. Ich will durchschlafen können. Dann bin ich tagsüber entspannter. Kompromiss. Ich will durchhalten können, ich will einen langen Atem haben, um Paul zu begleiten, ich will nicht zusammenklappen. Ich werde es schon schaffen. (Fortsetzung folgt …)