5. Mai 2011 – Beim Neurologen
Der Tag beginnt wie üblich. Kaffee vorbereiten, Duschen, Frühstück. Dann ein Blick auf die Agenda und die Wellen drohen über mir zusammenzuschlagen.
Heute zweiter Besuch beim Neurologen. Zuerst aber Telefon mit Ärztin für Laborberichte, Apotheke, Pauls Knie. Die Rechnung des Garagisten reklamieren (habe kein Benzin einfüllen lassen, Tank war voll, als ich das Auto brachte), und die Liste der Krankenkosten-Auslagen für die Steuererklärung ist noch immer nicht fertig. Zahlungen fällig, Busse pünktlich bezahlen (peinlich: Parkscheibe falsch eingestellt!), Bezahlen des Fahrdienstes und, und … schon wieder Mittagessen planen.
In der Flut all der Verpflichtungen droht meine Insel (das Cellospielen) unterzugehen. Ein Spaziergang ist auch eine Art Therapie, hat aber nicht dieses die Seele Aufbauende wie mein Cello, das mir Kraft und Trost gibt.
Paul wird vom Neurologen direkt angesprochen. Vollkommen wirr antwortet er ihm, zeigt alle Zettelchen der zu bestellenden Medikamente, legt eines nach dem andern auf den Schreibtisch, sagt, er könne nichts dafür. Ich sitze daneben, verzweifelt, Paul in diesem Irrgarten zu belassen, ohne ihm erklären zu können, um was es geht.
Der Arzt hört ihm zu, sagt kein Wort, belässt ihn längere Zeit in seinen wirren Erklärungen. Ich fühle mich elend, bin wie in einem luftleeren Raum.
Ich schaue immer wieder auf die Uhr. Nachdem wir fast eine halbe Stunde warten mussten, wird es knapp mit der Parkscheibe. Bloss eine Stunde Parkzeit. Will doch nicht schon wieder eine Busse. Schont meine Nerven.
Sicher, die Erklärungen am Bildschirm waren interessant: Die Aufzeichnungen der Gehirnströmungen. Und möglicherweise ist es gut, dass von Tegretol auf das neue Depaktin gewechselt wird, es sei eine Übergangsmedikamentation nötig. Verstanden.
Aber nie weiss ich, was der Arzt wirklich wissen will. Was soll ich sagen, was nicht. Was ist wichtig, was nicht. Hauptthema für mich: Helft ihm und hilf mir!
Endlich habe ich mich mit dem Gedanken an die Krankheit Demenz abgefunden und lerne, damit umzugehen – nun wird alles in Frage gestellt. Mir scheint, der Arzt habe sich ungenügend in die Vorgeschichte eingelesen.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Ich kläre ihn auf: Nach dem Hirnschlag schien Paul fast 100-prozentig in Ordnung. Erst nach etwa eineinhalb Jahren stellten sich Veränderungen in der Persönlichkeit ein, auch Verlangsamung, Schwerfälligkeiten, Antriebslosigkeit. Mühe mit Verstehen und Sprechen. Paul durfte nicht mehr Autofahren.
Ein gründlicher Test hatte zutage gebracht, dass Verdacht auf dementielle Entwicklung bestehe. Ein Verdacht, der dann nach einem weiteren Jahr von der Memory Klinik bestätigt und als mittelschwere Demenz eingestuft wurde.
Doch wie viel Interesse hat der Arzt überhaupt an meinen Aussagen und den früheren Untersuchungen? Er vermutet, dass das Epilepsie-Medikament schuld sei an den Sprachstörungen usw. Ich verstehe im Moment einfach nur Bahnhof. Bin zu erschöpft, um mich noch zu konzentrieren
Ich habe einen Mann A und einen Mann B seit dem Hirnschlag, erkläre ich Dr. P. – Der eine ist mir vertraut, der andere gänzlich fremd. Dr. P. blättert weiter in den Berichten des Inselspitals auf seinem Bildschirm, ich weiss nicht, ob er mir überhaupt zuhört. Dann behauptet er, bisher seien keine EEG-Aufnahmen gemacht worden. Doch, jährlich war Paul mit diesen Elektroden am Kopf untersucht worden, jedes Mal hat er über die verklebten Haaren geklagt!
Wieder so eine haltlose Behauptung, ich bin nun ganz verunsichert. Was soll das Ganze? Hat er nun eine umfassende Anamnese vor sich, oder nur einzelne Puzzlesteine? Will er von mir einen genauen Bericht? Aber worüber?
Die Anzahl der schweren Anfälle mit Hospitalisierung, Wahrnehmungen aus dem Alltag. Aber welcher Art?
Was soll ich berichten von unserem beschwerlichen, gemeinsamen Weg? Was ist wichtig, was ist nötig? Nein, ich mag jetzt nicht. Tut mir leid. Büro geschlossen.
Dann der Termin bei der Hausärztin. Die rechte Kniekehle von Paul ist stark angeschwollen. Ich berichte kurz über den Besuch beim Neurologen. Frau K. klärt mich auf, dass sich die Medikamente tatsächlich gegenseitig «stören», so hat Paul über Monate Remeron umsonst eingenommen, da es durch andere Medikamente praktisch wirkungslos wurde. Gift lässt grüssen.
Verwirrung zunehmend … ach, was wird nicht alles am Menschen versäumt, vertrödelt, verdummt. Mich wühlt das alles auf, wenn ich an die letzten Jahre denke – das Zusammenleben mit Paul war mehr als schwierig, unser Leben ist versaut worden, krass ausgedrückt. Was hätte man verhindern können?
Auch die Bemühungen, herauszufinden, was eigentlich Ursache der dauernden Schmerzen in seinem linken Knie mit dem künstlichen Gelenk sein könnte, hat man eingestellt. Er ist ja nur Rentner, sparen auf seine Kosten.
Man hat sich nicht einmal die Mühe genommen, wie bei den Sportlern, eine weitere Untersuchung zu beantragen. Röntgenbilder zeigen ja nicht alles. Soll er doch weiter jammern. Und wir mussten unsere gemeinsamen Wanderungen an den Nagel hängen.