16. Juni 2012 – Wird ihm genüge getan?
Zusammengekauert vornübergebeugt sitzt Paul auf der harten Bank im Korridor. Dort ist es düster. Fast die ganze Nacht hat er dort verbracht. Schon mehrere Male. Kein Wunder, wenn ich ihn dann am Nachmittag dösend antreffe, und er nicht sprechen mag. Immer wieder schliesst er die Augen und beugt sich vornüber.
Er strahlt mich an wie ich ihn begrüsse, streckt sich eine Weile, um sich dann wieder vornüber zu beugen. Eigentlich eine schreckliche Lage: Stundenlang so zu sitzen!
Wer kümmert sich um ihn mit der nötigen Geduld und mit Feingefühl, wenn er sich mit Worten nicht mehr äussern kann?
Da er nicht mehr rechtzeitig auf die Toilette kann, nässt er. X-Mal am Tag die Hosen wechseln. Er schämt sich dafür. Mit ein Grund seiner Verzweiflung. Kürzlich traf ich ihn im Zimmer an, hinter der Tür, auf einem Stuhl. Beide Hosenbeine nass. Schämen. Ein Wort, das er korrekt aussprechen kann.
Manchmal sagt er auch: Geh nicht. Bleib. Und ich weiss, es würde nicht besser, wenn ich noch bliebe. Der Abschied macht auch ihm jedes Mal zu schaffen. Jedes Mal wenn er mich sieht, weint er fast. Das erinnert mich an Kinder im Ferienlager. Wenn sie dann ihre Eltern sehen, weinen sie. Da bricht der ganze Schmerz der Sehnsucht auf.
Das Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Er deutet Richtung Pflegende. Missmutig. Kopf schütteln. Unzufrieden. Mir scheint, er versinkt in Resignation. Es wäre noch mehr in ihm, doch er kann es nicht ausdrücken. Er denkt (noch) recht tiefgründig, in Zusammenhängen, kann seine Gedanken nur nicht in verständliche Worte fassen.
Ab und zu gelingt ein vollständiger Satz, oder einige klare Worte. Doch ist es ein Raten, in welchen Zusammenhang nun diese Äusserungen gebracht werden müssen. Wo ist er mit seinen Gedanken? Meistens reagiert er auf Themen, die bereits einige Minuten zurück liegen.
Er trinkt den Kaffee, den Milana hinstellt, geniesst sichtlich die Schokoladen-Crème, gibt mir das Geschirr. Sobald er aufsteht, könnte ich ihn in den Lift locken – die Möglichkeit für ein paar Schritte an der frischen Luft. Das brächte ihm Abwechslung, täte ihm gut.
Doch Milana ist zu langsam, der Lift kommt nicht, Paul ist bereits wieder auf dem Weg. Zurück auf die harte Bank. Eine Weile bleibe ich neben ihm sitzen, er schottet sich ab mit geschlossenen Augen und schlummert vor sich hin. Was kann ich (noch) tun?
Was nützt es, wenn ich noch länger neben ihm sitzen bleibe? Wieder dieses Ohnmachtsgefühl. Nicht helfen können. Wie viel bequemer wäre es, wenn er sich wenigstens auf dem Bett ausstreckte.
Er tut mir so leid. Noch länger bleiben, und ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich verabschiede mich.
Quälende Fragen lassen mich früh morgens aufwachen: Artgerechte Haltung? Wird Paul Genüge getan? Kümmert man sich um ihn, oder überlässt man ihn einfach sich selbst, wenn er sich weigert ins Bett zu gehen? Versteht er ihre Fragen überhaupt? Werden ihm die Zähne geputzt, die Spangen herausgenommen?
Es ist sicher einfacher, ihn sich selbst zu überlassen, als einige Tricks aus der Trick-Kiste hervorzuholen, was natürlich Zeit braucht. Hat es jetzt wieder genügend Fachpersonal? Wen sonst hat Paul, ausser mich?