30. Juli 2011 – Enkel geniessen
Heute kommt mein Enkel Simon. Er hilft mir Pflaumen ablesen. Vorher hatte er ein Vorstellungsgespräch. Eine zweite Lehre möchte er anfangen. Sich weiterbilden – wie gut sein Vorhaben doch ist. Noch fällt das Lernen leicht. Später wird es schwieriger, man muss sich mehr anstrengen.
Gleichzeitig hat er sich fürs Mittagessen bei mir angemeldet. Finde das super, er weiss klar zu kommunizieren und seine Wünsche anzumelden. Kein Hickhack um den heissen Brei. Oder doch, oder nicht, dieses ewige Werweissen. Gerade heraus, aufrichtig, das tut auch mir gut.
Ich gehe fischen. Immer wieder kommt mir Petrus in den Sinn. Statt untätig und depressiv herumzuhocken im grossen Schmerz und in der Trauer hatte er entschieden, etwas Praktisches zu machen. Arbeit ist Medizin. Und Jesus hat dann die Jünger beim Fischen angesprochen und sich ihrer dort angenommen.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Danke Herr, dass du mich auch heute wieder durchträgst, mich ermutigst, mir einen Tisch bereitest im Angesicht all meiner Nöte und Probleme. Und dennoch: Ich schreie wieder zu Dir: Kyrie Eleison!! Wie lange noch?
Mittagessen mit Simon. Es gibt gehacktes Rindfleisch und Spaghetti. «Magst du es mit Tomatensauce oder gewürzt mit Curry?». «Tönt interessant mit Curry. Gern.» Während ich koche, arbeitet Simon fleissig. Er stellt sich sehr geschickt an. Greift zu, weiss wie, ohne langes Getue.
Nach kurzer Zeit sind sieben Kilogramm reife Pflaumen in den Gefässen. Dann macht er eine kurze Pause auf dem Bänkli vor dem Haus. Ein lieblicher Anblick, ihn hier zu haben, zu sehen, wie er sich hier wohl fühlt.
Dann Rasen mähen. Er besieht sich kurz das hohe Gras unter den Apfelbäumen, sieht die Sense, greift nach dem Schleifstein und macht sich ans Schleifen. Wie ein Profi, und er weiss auch, wie man mit der Sense umgeht. Dann mit Rasenmäher und Trimmer. Noch bevor es Mittagessen gibt, hat er das alles geschafft. Ich staune nur noch über seinen Einsatz.
Mein Herz ist mal wieder voller Freude, getröstet und wie wir noch gemütlich zusammen essen können, reden wir auch über die Zukunft. Erholung pur, der Besuch meines Enkels. Bin so dankbar, dass er sich Zeit fürs Grosi genommen hat. Tut so gut. Balsam für meine wunde Seele.
1. August 2011 – Dennoch Freude erleben
Heute darf ich Mittagessen bei Urs und Barbara. Ich muss mich aufraffen, obwohl es doch ein Riesengeschenk ist, eingeladen zu werden, Gemeinschaft pflegen, Trost erhalten. Und erst noch von Freunden, die grossen Anteil nehmen am Geschick von Paul und mir.
Es war Urs, der damals – als ich so Angst hatte vor dem Schritt für Paul ins Pflegeheim – das Bild vom barmherzigen Samariter beschrieb: Der musste schliesslich seinen Verwundeten auch «abgeben» in der Herberge. Zahlte dafür, ging ihn dann besuchen. Und kürzlich sagte mir Urs: Und Gott selbst hat dir die Entscheidung im richtigen Zeitpunkt abgenommen, damit nicht du entscheiden musstest.
Ja, das ist auch Grund zur Dankbarkeit, hatte es vergessen. Gott selbst hatte gesprochen, drei Tage nachdem ich ihm den «Bettel hinwarf», als ich einfach am Ende meiner Kräfte war. Paul hat die Überdosis an Medikamenten selbst eingenommen, musste ins Spital. Die Ärzte stuften es als völlig unrealistisch ein, Paul wieder nach Hause zu nehmen.
Das muss ich glauben, obwohl in meinem Hinterkopf – besonders in Situationen wie gestern bei Pauls Abschied – Gedanken auftauchen, ihn einfach ins Auto zu packen und nach Hause zu fahren.
Seinem Herzensschrei nachgeben, ihn zu mir zu nehmen. Heile-Welt-Gedanken, Wunschdenken, das Rad zurückdrehen.
Und dann weiss ich, nach zwei Tagen wäre ich bereits wieder am Ende meiner Möglichkeiten, erledigt … oder doch nicht? Herz, du denkst, aber der Verstand muss lenken. Wunschdenken, Sehnsucht, kindlicher Glaube an Wunder, an Überkräfte, an Gottes Wunderkraft. Muss ich es ganz begraben? Täusche ich mich selbst, mache ich mich dadurch nur noch unglücklicher?
Beim Frühstück kommen mir wieder die Tränen. Ich schaue gedankenversunken auf das Tischset von den sieben Früchten des Landes Israel. Schon mehrmals hat mich das Bild des Granatapfels fasziniert, Gedanken ans Malen kommen. Da ich weiss, dass dieses Herumhängen und Trauern eine Gefahr darstellt, stehe ich auf. Entschlossen, dieses Bild des Granatapfels zu scannen und zu bearbeiten.
Nun muss ich unbedingt meine Aquarell-Farben und Pinsel hervornehmen. Ich muss etwas Neues beginnen, etwas, was mir Freude macht. Meine Gedanken in eine andere Richtung bringen. Träume nicht nur träumen, sondern ausleben.
Einen Versuch starten mit der Kombination von Fotobearbeiten und Aquarellieren. Einsteigen mit diesem Trick. Sich anregen lassen von anderen Aquarellbildern.
Etwas tun, was mir Freude macht, meine schöpferischen Gaben nutzen.
Es ist zehn Uhr. Ich habe das erste Bild vor mir. Die Granatäpfel sind recht gut gelungen. Nach relativ langer Zeit wieder mal den Pinsel führen, die Farben zerfliessen lassen, die Farben mischen, hat mich beglückt, es ist wieder heller geworden in mir.
Nun freue ich mich auch auf den Besuch. Ich erfreue mich am schönen Tag. Obwohl heute die Knallerei zum 1. August zu ertragen eine rechte Herausforderung ist, überwiegt die Freude am Neuen. Ich lese in dem Buch Der Rabbi von Noah Gordon: «Alles Böse kann nur durch Freude, nicht aber durch Kümmernis überwunden werden».
3. August 2011 – Eine Feste zur Zeit der Not
Das ist heute das Losungswort aus Nahum 1,7. Wie ich Zuspruch aus der Bibel nötig habe. Gestern war wieder so ein herzzerbrechender Abschied. Paul wollte unbedingt mit mir gehen. Beinahe hätte er geweint, er ist mir nachgeeilt zum Lift, die Pflegende hat ihn dann abgelenkt. Oh, wie hat er geklagt, ich hörte sein Rufen noch beim Hinunterfahren.
Wer kann solche Szenen nachfühlen? Diesen Schmerz, dieses Reissen, ich will ja die Trennung auch nicht. Doch Paul kann es nicht (mehr) verstehen. Gestern marschierte er zielstrebig Richtung Hauptstrasse, besah sich die Tramstation. Ein recht anstrengender Spaziergang. Mit viel Überredungskunst konnte ich ihn zurück ins Café locken.