«Etwas, das in Japan funktioniert, ist nicht so einfach eins-zu-eins in unseren Kulturkreis übertragbar.»
PD
An Japan messen die industrialisierten Länder ihre demografische Zukunft. Das Land ist technologisch hochentwickelt und leidet zunehmend an Überalterung. Doch beim Thema Robotik treffen kulturelle und zivilisatorische Welten aufeinander.
Frau Misoch, nach Ihrer letzten Japanreise berichteten Sie über die Insel der Hundertjährigen in Okinawa, wo die Menschen dank einer intakten Gemeinschaft sehr alt werden. Weiter erzählten Sie von einem Altersheim in der anonymen Millionenstadt Tokio, wo bei Menschen mit Demenz Therapie-Roboter zum Einsatz kommen. Haben Sie eine Erklärung für diese Diskrepanz innerhalb einer relativ homogenen Gesellschaft?
Sabina Misoch:Gerade die Menschen aus Okinawa fühlen sich nicht als Japaner, sie wurden von den Honschu-Japanern vor Jahrhunderten annektiert. Kulturell sind diese Menschen in der Vergangenheit eher von China als von Japan beeinflusst worden, sie pflegen beispielsweise eine eigene Sprache.
Die Menschen auf Okinawa haben eine andere Art mit dem Leben umzugehen. Zudem bestehen zwischen dem ländlichen und dem urbanen Japan generell sehr grosse Unterschiede.
Ich habe es schon erlebt, wie sich die Tokio-Japaner über die Menschen aus Okinawa lustig machen: Sie seien Müssiggänger und arbeitsfaul.
Umgekehrt finden jene, die Tokio-Japaner arbeiteten sich zu Tode. Diese andere Einstellung zum Leben ist sicher auch ein Faktor, warum die Menschen in Okinawa eine höhere Lebenserwartung haben.
Ist Müssiggang also das grosse Geheimnis der Langlebigkeit?
Professor Suzuki, ein Mediziner, der die Menschen auf der Insel der Hundertjährigen über Jahrzehnte hinweg begleitet und studiert hat, ist tatsächlich zur Überzeugung gelangt, dass es vor allem Umwelt-Faktoren sind (also Lebensstil, Ernährung, Soziales usw.), die zu dieser Langlebigkeit führen.
Nur gerade 25 Prozent sei genetisch bedingt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Ikigai, in etwa der japanische Ausdruck für Lebenssinn: Das, was mir jeden Morgen Grund und Energie gibt, aufzustehen und den Tag in Angriff zu nehmen. Findet ein Mensch sein Ikigai, bewirkt es für ihn ein Gefühl der Lebensfreude und damit innere Zufriedenheit.
Zu Besuch auf der Insel Okinawa
Japan
Auf den Spuren der Hundertjährigen
Sabina Misoch, Professorin an der Fachhochschule St.Gallen, hat auf ihrer Forschungsreise durch Japan das Dorf Ogimi auf der Insel Okinawa besucht. Hier leben … weiterlesen
Dieses Ikigai lässt sich in einer Agrargesellschaft viel eher leben als in einer hochtechnologischen Umgebung. Da gibt es kein Rentenalter, keinen Rentenschock, man arbeitet so lange auf dem Feld wie es der Körper erlaubt, auch wenn es hundert Jahre sind. Man wird bei Erreichen des Rentenalters nicht einfach ausgemustert.
Wie erklären Sie den Umstand, dass die Japaner einen so ungezwungenen Umgang mit technischen Hilfsmitteln haben?
Bei meinem ersten Japanbesuch hielt ich ein Referat zur Technologieakzeptanz. Danach wurde ich gefragt, ob das in Europa wirklich ein Problem sei, in Japan sei das überhaupt kein Thema.
«Wenn wir bei uns Technologien für ältere Menschen auf den Markt bringen, ist die Akzeptanz das grösste Problem.»
Das lässt sich teilweise mit der kulturellen Narration erklären. Die japanische Manga-Kultur beispielsweise ist für uns einfach eine Sammlung von Comic-Heftchen, in Japan hingegen haben diese Mangas seit den 1960er Jahren einen Stellenwert vergleichbar mit unseren Märchen.
Dort kommt immer auch ein Roboter vor. Nur hat dieses Maschinenwesen ein schlagendes Herz, es ist beseelt und nicht nur eine Ansammlung von Drähten und Prozessoren.
Mit Humor sieht man klarer:
Ihr Kollege Hiroshi Ishiguro sagte einmal in einem Interview, in der vom Buddhismus geprägten japanischen Spiritualität habe jeder noch so unbedeutende Gegenstand eine Seele, also auch ein Haufen Drähte und Relais. Deshalb würden auch Roboter als beseelte Wesen akzeptiert.
Genau, das kommt noch hinzu, ebenso die Verspieltheit und Begeisterungsfähigkeit der Japaner. Bei einer Puppe, die in die Hände klatscht und dazu ein Lied singt, finde ich: Was soll das? Was bringt das?
Die Japaner hingegen sind entzückt: Das sei niedlich, lustig und unterhaltsam. Allein deswegen ist es bereits mit einem Wert besetzt. Da herrschen grosse kulturelle Unterschiede. Etwas, das in Japan funktioniert, wie diese Therapie-Roboter im Tokioter Altersheim, ist nicht so einfach eins-zu-eins in unseren Kulturkreis übertragbar.
Zu diesem Thema haben wir derzeit mehrere Studien in der Pipeline. Wir haben beispielsweise untersucht, wie ein unterstützender Roboter bei uns aussehen soll.
«Wünschen wir, dass ein Roboter als künstliche Entität erkennbar ist, oder soll – wie im asiatischen Raum – dieser Roboter so menschenähnlich wie möglich aussehen?»
Während in Japan ein solche Maschine möglichst humanoide Züge haben soll, kommt das in unserem Kulturkreis wahrscheinlich eher schlecht an. Wir warten noch auf die genauen Ergebnisse dieser Studie. Ich vermute aber, dass das sehr kulturell gerahmt sein wird.
Dennoch sind Sie der Meinung, dass solche Therapie-Roboter auch in der Schweiz ein grosses Potenzial haben. Wie das?
Wenn man vorher die Akzeptanz feststellt – welche Art von Roboter wünschen sich die Menschen? – dann kann man die Roboter zielgerechter so konstruieren, dass sie akzeptiert werden. Ohne Akzeptanz werden sie auch keine Wirksamkeit entfalten.
Eine Frage, die sich viele stellen: Werden Roboter in Zukunft eine gute, empathische Pflege von alten, gebrechlichen oder kognitiv beeinträchtigten Menschen ersetzen können?
In den Medien wird gerne über den sogenannten Pflegeroboter diskutiert.
«Es wird nie einen derart komplexen Roboter geben, der wirkliche Pflegearbeit verrichten kann; so etwas sollte es auch nicht geben.»
Ziel ist es, Systeme zu entwickeln, die eine echte Unterstützung leisten und den Pflegenden den Alltag erleichtern sollen.
Wenn man bedenkt, dass im Jahr 2050 36 Prozent mehr Pflege- und Betreuungspersonal nötig sein wird, dann macht es mehr als Sinn, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wir haben ja bereits heute einen Pflegenotstand.
Wenn es gelingt, repetitive und zeitintensive Arbeiten an Maschinen zu delegieren, bleibt mehr Zeit für die eigentlichen Kernaufgaben der Betreuung und Pflege.
Wie bringt man Robotern Gefühle bei?
Sabina Misoch ist Soziologin und Expertin für empirische Forschungsmethoden, Technikakzeptanz, AAL, Identität im Alter, Diversity, Werteforschung und Neue Medien. Sie leitet an der FHS St.Gallen das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter IKOA-FHS. Ausserdem ist sie Leiterin des aktuell grössten nationalen Forschungsprojekts «AGE-NT – Alter(n) in der Gesellschaft».
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