Eine Rosine und der Sinn des Lebens - demenzjournal.com
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Kurze Geschichten

Eine Rosine und der Sinn des Lebens

«Wenn ich auf dem Kopf stehe, könnte ich mit meinen Beinen über den Himmel laufen ... » Bild PD

Frau K. vergisst viel. Aber manchmal versteht sie mehr von der Welt als andere. Fünf erhellende Kurzgeschichten.

Im Himmel

«Was machen Sie denn da mit Ihrem Kopf auf dem Boden?», fragt der Pfleger.

«Ich möchte gern auf dem Kopf stehen», sagt Frau K., die in ihrem Zimmer auf dem Fussboden kniet. «Aber das ist schwer.»

«Warum möchten Sie denn auf dem Kopf stehen?»

«Ich könnte mit meinen Beinen über den Himmel laufen, das wollte ich schon immer.»

«Sind Sie sicher, dass Sie sich da oben nicht verirren?»

«Bestimmt nicht», antwortet Frau K. zufrieden. «Den Himmel schaue ich mir jeden Tag an, da kenne ich mich aus.»

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Kurze Geschichten (2)

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Harlekin

«Die Leute sehen alle so merkwürdig aus. Ist doch kein Fasching, oder?», fragt Frau K.

«Das ist wegen Corona», sagt die Nichte.

«Was ist das noch mal?»

«Eine Krankheit. Du musst auch eine Maske aufsetzen, Tante, damit du sie nicht bekommst.»

«Weiss ich doch. Warum bist du so weit weg von mir?»

«Damit ich dich nicht anstecke.»

«Hast du denn Carola?»

«Du meinst Corona. Glaub’ ich nicht. Ist nur vorsichtshalber.»

«Du musst nicht so brüllen.»

«Tu ich doch nicht, Tante. Ich dachte nur, du verstehst mich sonst nicht.»

«Können wir mal über was anderes reden? Mir reicht es mit Carola.»

«Worüber denn?»

«Ich war mal beim Karneval in Venedig, ist lange her. Die Masken waren wunderschön. Ein Mann trug eine bunte Maske mit Federn dran und so eine zipfelige Mütze auf dem Kopf.»

«Du meinst den Harlekin?»

«Ich glaube schon. Er hat nicht so griesgrämig geschaut, wie die Leute jetzt überall schauen. Kann der nicht mal zu uns kommen?»

«Wenn er aus Italien kommt, hat er vielleicht Corona.»

«Gibt es da auch Carola?»

«Leider ja.»

«Kannst du mir vielleicht so eine Hallokin-Maske besorgen?»

«Ich weiss nicht, ob die vor Corona schützt.»

«Aber man bekommt damit keine schlechte Laune.»

«Deine Sicherheit ist wichtiger, Tante.»

«Weisst du eigentlich, wie man nach Venedig kommt? Ist doch ziemlich um die Ecke oder?»

«Eigentlich nicht.»

«Na gut. Morgen gehe ich mal zur Haltestelle. Damals bin ich auch mit dem Bus gefahren.»

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Schneeglöckchen

«Die Schneeglöckchen sind hübsch», sagt Frau K. zum Gärtner.

«Das sind Maiglöckchen, Frau K., wir haben doch Mai.»

«Na gut», antwortet Frau K., «ist auch besser so.»

«Wie meinen Sie das?»

«Dann muss ich keine Angst haben, dass es bald wieder schneit. Und ich kann barfuss losgehen, wie früher.»

«Früher?»

«Oh, das ist lange her, das war in einem anderen Leben.»

«Wie viele Leben haben Sie denn, Frau K.?»

«Mindestens sieben, soweit ich weiss.»

Knöpfe

«Das macht 3 Euro 30.»

Frau K. greift in ihre Rocktasche, um Milch und Brötchen zu bezahlen. Sie legt drei Knöpfe auf den Ladentisch.

«Das sind aber Knöpfe und keine Münzen, Frau K.», wundert sich die Verkäuferin.

«Das weiss ich doch», entgegnet Frau K. «Aber Knöpfe sind schöner. Vielleicht wäre die Welt besser, wenn wir alle mit Knöpfen bezahlen würden.»

«Warum das denn, Frau K.?»

«Münzen glänzen und machen gierig. Außerdem stinken sie», antwortet Frau K. «Seit ich mit Knöpfen bezahle, geht es mir viel besser. Probieren Sie es doch mal aus.»

Rosinen

«Mein Vater ist 213 geworden», sagt Frau K., als die Pflegerin in ihr Zimmer kommt. «Ich glaube, das kann ich auch schaffen.»

«Dann haben Sie aber noch ein paar Jahre vor sich», meint die Pflegerin.

«Naja, geht so», sagt Frau K. «Ehe man sich versieht, ist es plötzlich so weit.»

«Ja, die Zeit vergeht schnell.»

«Wie alt sind Sie denn?», fragt Frau K. die Pflegerin.

«43.»

«Dann haben Sie aber auch noch ein paar Jahre vor sich.»

«213 werde ich wohl nicht schaffen», antwortet die Pflegerin. «Ausserdem wäre ich dann so schrumpelig wie eine Rosine.»

«Ich mag Rosinen», sagt Frau K. «Ich schaue mir jede einzelne an und zähle die Falten. Das ist natürlich ein Haufen Arbeit.»

«Und was bringt das?»

«Es bringt, dass ich ganz genau hinschaue und mich von keinem Menschen stören lasse.»

«Werden Sie denn so oft gestört?»

«Ja, ständig. ­– Entschuldigen Sie mich jetzt bitte.»

Frau K. dreht der Pflegerin den Rücken zu, holt eine Handvoll Rosinen aus ihrer Kommode und legt sie auf den Tisch. Dann zählt sie leise vor sich hin.