Ich war noch ein junger Mann mit schulterlanger Mähne, als ich zum ersten Mal mit demenzkranken Menschen zu tun hatte. Jahrzehnte ist das her, das Wort «Demenz» war nahezu unbekannt, aber die Erinnerung daran hat sich eingenistet und wahrscheinlich mein Berufsleben mitgeprägt.
Wie viele junge Männer, die damals den Wehrdienst verweigerten, war ich im Ersatzdienst als Rettungssanitäter unterwegs. Ein Job, der mich ohne Vorwarnung mit der Endlichkeit des Lebens konfrontierte. Ich lernte in meinem Berufsalltag, in dem der Notfall der Normalfall war, dass es nicht allein darum ging, gebrochene Glieder zu schienen und Spritzen zu setzen, Wunden zu verbinden und Herzmassagen durchzuführen, sondern auch Vertrauen zu gewinnen und damit Verletzten das Gefühl zu vermitteln, in sicheren Händen zu sein.
«Dement, aber nicht vergessen»
In seinem Ratgeber «Dement, aber nicht vergessen» gibt der Demenzexperte Michael Schmieder neun Empfehlungen, was Betroffenen und Angehörigen guttut. Dazu nutzt er seinen Erfahrungsschatz als Gründer des Heims Sonnweid in Wetzikon und als Angehöriger. alzheimer.ch veröffentlicht das erste Kapitel des Buchs in drei Teilen.
Trotz allem Leid und Schrecken, denen ich täglich begegnete, spürte ich bald, dass ich in diesem Beruf zu Hause war. Menschen zu helfen, ist eine Aufgabe, die auch einem selbst hilft, weil man etwas Sinnvolles macht und seinen Platz in der Gesellschaft findet. Vorausgesetzt, man bringt eine Haltung mit, die Menschen in Not nicht nur körperlich, sondern auch seelisch stützt.
Nicht, dass man im Angesicht des Leids in Tränen ausbrechen muss. Im Gegenteil: Entscheidend ist ein beherzter Beistand, der signalisiert, dass da jemand zur Stelle ist, der sich einfühlt und weiss, was zu tun und zu lassen ist. Ich bilde mir ein, dass mir diese Art der Zuwendung nach und nach immer besser gelang – bis auf Fälle, die mich und selbst meine erfahrenen Kollegen vor unlösbare Probleme stellten.
Sie traten ein, wenn uns verzweifelte Menschen riefen, die daheim einen demenzkranken Angehörigen betreuten und mit ihrem Dienst am Nächsten überfordert waren. Es half ein wenig, wenn sie sich über dessen Unarten ausweinen konnten, über das Chaos, das er anrichtete, über Launen, Schmutz und Schamlosigkeit.
Ich selbst war als junger Mann radikal aufmüpfig. Und nun traf ich auf Menschen mit Demenz, die lebten, was ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Es hat Angehörige oft schon beruhigt, dass ein Sanitäter wie ich zuhörte und versuchte, die Situation zu erfassen.
Ich sah in übermüdete Gesichter, weil die Unrast des Erkrankten für Angehörige die Nacht zum Tag gemacht hatte, entdeckte auch Zeichen von Panik, wenn die Situation eskaliert war und Gewalt drohte.
Jahrelang sei es friedlich zugegangen, jetzt häuften sich Wutanfälle, meist aus nichtigem Anlass, zuweilen auch in Form gespenstischer Szenen. Zum Beispiel, wenn der Kranke sich nicht mehr im Spiegel erkannt hatte und den fremden Eindringling anbrüllte, der da plötzlich vor ihm aufgetaucht war.