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Zwischen Komfort und Notwendigkeit

Korrektes Lehrbuchwissen oder krakeelende Patientin, wer kann sich hier durchsetzen? Korrekt oder Komfort? PD

Wie schnell führen sinnvolle und notwendige, echte oder auch nur gefühlte Einschränkungen des Komforts im Bereich von Krankheit und Krankenversorgung zu Verärgerung und negativen Emotionen?

Gesundheits-Profis, seien sie nun aus der Pflege, der Medizin oder einer der anderen therapeutischen Disziplinen, erleben immer wieder den gleichen Spagat zwischen dem Wohlbefinden des Patienten und den Grenzen oder Vorgaben unseres Gesundheitssystems und/oder ihres gut begründeten Wissens.

Andreas Gerlach

Der Autor arbeitet als Arzt und Spötter in einem grossstädtischen deutschen Krankenhaus und kämpft wie Laokoon mit seinen Söhnen gegen die Schlangen des Gesundheitssystems und die Fallstricke absurder Ansprüche von Patienten und Angehörigen.

Der Patient möchte gerne frei sein von Krankheiten und ihren einschränkenden Folgen und beruft sich dabei auf die altbekannte Definition der WHO aus dem Jahr 1946: «Gesundheit ist der Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen».

Der gleiche Satz liesse sich problemlos mit «Optimaler Komfort ist …» bilden. Die Krankenkassen verweisen hingegen, zumindest in Deutschland, gerne auf das Sozialgesetzbuch V, wo ausdrücklich nur die notwendigen Massnahmen zur Wiederherstellung und zum Erhalt der Gesundheit als kostenpflichtig für das Gesundheitssystem, und damit letztlich für uns alle, festgelegt werden.

Über die Details streiten dann oft genug die Juristen, aber schon sprachlich klafft zwischen dem vollkommenen Wohlbefinden, also auch hohem persönlichen Komfort einerseits und der Beschränkung auf das Notwendige andererseits eine tiefe Kluft – Komfort ist eben gerade nicht nur das Notwendige.

«Frau Doktor, ich hab’s doch so im Rücken, ein paar Massagen würden mir da bestimmt sehr gut tun!»

Da macht die arme Hausärztin den Spagat. Je nach Temperament wird sie der Patientin erklären, dass passive Massnahmen allenfalls kurzzeitig therapeutisch wirksam sind, oder darauf hinweisen, dass richtige Massagen bei alters-typischer Osteoporose nur zu Frakturen führen würden oder dass Massagen allenfalls zur Wellness gehören und damit selbst zu bezahlen seien.

Sie könnte eigentlich auch gleich schweigen; am Ende bleibt höchstwahrscheinlich nur übrig, dass die Frau Doktor wieder einmal einer Patientin das bisschen Wohlfühlen und ein wenig Komfort mutwillig verweigert hat.

«Also Schwester, wie soll ich hier gesund werden, wenn mein Bettnachbar neunmal in einer Nacht die Nachtschwester ruft, die dann auch noch Licht anmacht und lautstarke Verrichtungen durchführt, ja sogar diesen volltauben Trottel anbrüllt?»

Stimmt irgendwie schon. Es gehört zum oft unterschätzten Komfort des normalen Lebens, sich seinen Mitschläfer oder seine Mitschläferin selbst auszusuchen und eine möglichst erholsame und damit gesundheitsfördernde Nacht zu verbringen. Und selbst auf Privatstationen ist das Einzelzimmer keineswegs immer Standard. 

Was soll die arme Krankenschwester tun? Die Zimmer tauschen, damit zur Abwechslung einmal ein anderer Patient und neue Angehörige maulen?

Oder jeden zweiten Patienten auf den Balkon schieben? Oder können besonders gut ausgebildete Nacht-Schwestern Patientenrufe vorausahnen und auch in tiefster Dunkelheit völlig geräuschlos ungemein hilfreich wirken und lautlos kommunizieren?

«Was für eine faule Bande! Meine arme Mutter soll sich hier sogar selbst waschen!“

Klar soll sie das!
 Aktivierende Pflege nennt sich das in der Arbeitsplanung der Pflegenden oder Förderung der Selbstversorgungskompetenz bei den Medizinern.

Wichtige Ziele, für die sich alle Mitarbeitenden engagiert und richtigerweise einsetzen. Nur: Erlebter Komfort wäre es, wenn man stattdessen mit wohlduftenden Essenzen liebevoll abgetupft würde und anschliessend in vorgewärmte Badetücher gehüllt elegant zum Frühstück schweben könnte …

Man mag es vielleicht nur schwer glauben, aber zumindest im Krankenhaus begegnet man immer wieder Männern mit zwei (!) gesunden/funktionsfähigen (!) Händen, denen ihre Frauen dreissig Jahre lang das Frühstücksbrötchen geschmiert haben und die jetzt vor dem gut gefüllten Tablett in akute Hungersnot geraten.

«Die frechen Schwestern rühren da überhaupt keinen Finger und als ich mich beschwert habe, konnte sich der unverschämte Oberarzt das Lachen nur knapp verkneifen, also das sind ja Zustände hier …»

Man sollte auch noch zwei Zimmer weiter gehen:

«Also Frau Oberärztin, sie glauben doch nicht, dass ich mir zu Hause dieses Insulinzeugs da selbst in den Bauch spritze – da kann ich mich ja auch gleich erschiessen!»

Natürlich könnte man einen Pflegedienst für die Insulin-Gaben in die Wohnung schicken; aber ist es moralisch vertretbar, dass die Allgemeinheit für den Komfort des Einzelnen vielleicht jahrelang bezahlt? Wenn der Patient unfähig wäre, sich selbst zu injizieren, gäbe es kein Zögern, aber so …

«Ich wünsch‘ Ihnen auch mal das dauernde Nass im Schritt – und den Murks mit diesen Vorlagen!»

Was ist hier passiert? Die Pflegerin hat heute Morgen in Absprache mit der Stationsärztin den komfortablen Blasenkatheter gezogen und extra erklärt, dass dieser Katheter eine Autobahn für gefährliche Bakterien wäre. Frau Doktor hat die Patientin später daran erinnert, dass sie im letzten Jahr bereits einmal eine Nieren- und Blutvergiftung durch diese Killer-Keime hatte.

Aber jetzt ist Chefvisite und Frau Maier muss doch noch einmal vehement kundtun, welchen Tort man ihr nun wieder angetan hat. Die Inkontinenz ist natürlich nicht geheilt und jetzt hat die Patientin wieder jede Menge Mühe mit ihrem Unterbauch.

Schwester Carmen und die Stationsärztin schauen erst sich und dann gespannt den Chef an: Was denn nun? Korrektes Lehrbuchwissen oder krakeelende Patientin, wer kann sich hier durchsetzen? Korrekt oder Komfort?

«Ich habe doch ohnehin Darmkrebs, deshalb rauche ich jetzt auch weiter – ist doch eh mein eigenes Haus, mein Körper und mein Komfort!»

Und Herrn Tenhofs Tochter beklagt sich jetzt beim Hausarzt, dass bereits der zweite Pflegedienst die Versorgung abgebrochen hat, weil man die Wohnung nur mit Atemschutz betreten konnte. «Im Sommer konnte ich ja immer noch rechtzeitig lüften, bevor der Pflegedienst kam, aber jetzt im Winter …»

Kommt Komfort vor Versorgung oder anders herum? Ober gibt es vielleicht extra Pflegedienste nur mit kettenrauchenden Mitarbeiterinnen?

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«Ich brauche meine acht Stunden Schlaf und wenn ich dafür drei Schlaftabletten nehmen muss – sonst bin ich tagsüber kein zufriedener Mensch. Und der Clown, der hier den Chef gibt, behauptet auch noch, eigentlich bräuchte fast niemand Schlaftabletten und will mir gerade mal eine Tablette geben lassen!»

Da sind Herrn Müller-Einzig aber die Sprachbilder kräftig durcheinander geraten. Der vermeintliche Chef-Clown ist eher ein weisskittliger Sisyphos, der tagtäglich versucht, zu erklären, dass der chemische Schlaf beim älteren Menschen die Sturzgefahr am nächsten Tag nochmals deutlich erhöht und die geistige Leistung reduzieren kann. Schlaf-Komfort oder zukünftige Schäden? – Das ist hier die sehr gerne überhörte Frage.

«Das nennt sich hier doch schmerzfreies Krankenhaus – warum versorgen sie meine Schwiegermutter denn nicht ordentlich? Können Sie Ihren Job überhaupt?!»

Schön, dass Herr Herzig seine Angehörige auch einmal besuchen kommt. Noch schöner wäre es gewesen, wenn er schon ein paar Mal da gewesen wäre. Dann hätte er sie trösten und ablenken können und zudem bemerkt, dass die Schwiegermutter auf das erste Schmerzmittel mit massiver Übelkeit, auf das zweite mit einer veritablen Vigilanz-Verschlechterung und auf das dritte mit einer Atemdepression reagiert hat.

Trotzdem wird weiterhin versucht, die Schmerzen zu lindern. Aber wenn der Komfort der Schmerzfreiheit direkt zur Lebensgefährdung führt, wird die Therapie weder leicht noch einfach sein.

«Was für eine Unverschämtheit! Da komme ich extra erst abends um halb zwölf in die Notfall-Ambulanz, damit ich nicht so lange im unkomfortablen Wartezimmer sitzen muss. Und jetzt ist dieser junge Mann da vor mir dran, obwohl sein Unfall gerade mal eine halbe Stunde her ist und meine Kopfschmerzen schon über vier Wochen!»

Tja, und wenn Sie Pech haben, dann erklärt Ihnen die Ärztin gleich noch, dass Sie überhaupt nichts in der Notfall-Ambulanz zu suchen haben und nur den Ablauf für wirklich Kranke blockieren. Erwähnen Sie ruhig, dass die Ärztin doch ohnehin die ganze Nacht hier sei, dann spendiert Frau Doktor Ihnen bestimmt noch eine Ganzkörpereinreibung mit Finalgon®. Seeeehr komfortabel, übrigens.

«Also Doktorchen, der Aufzug und mein Benz sind viel komfortabler als zu Fuss zu gehen oder Fahrrad zu fahren. Und der Komfort fördert meine Psyche, nicht die Bewegungen. Ich bin doch schliesslich keiner dieser Endorphin-Junkies!»

Referieren Sie da einmal über abdominelle Fettverteilung, kardiovaskuläres Risiko und Wohlstandskrankheiten – der innere Schweinehund liebt nun mal den (vermeintlichen?) Komfort des Sofas.

Trotzdem, Komfort ist erst einmal eine wohltuende Idee und ganz allgemein wird sich auch kaum jemand dagegen wehren wollen.

Aber Komfort verbraucht Ressourcen, manchmal eigene, manchmal fremde, manchmal auch ein bisschen von der speziellen Ressource «Freiheit». Vielfach wird man daher rund um die Gesundheit nicht alle denkbaren Aspekte des Komforts umsetzen können oder wollen.

Die hier vorgestellte Auswahl an Beispielen zeigt, wie schnell diese oft sinnvollen und notwendigen, manchmal auch nur unvermeidbaren, echten oder auch nur gefühlten Einschränkungen des Komforts im Bereich von Krankheit und Krankenversorgung zu Verärgerung und negativen Emotionen führen können.

Patentrezepte gibt es dabei wohl keine, eine professionelle Gesprächsführung kann hilfreich sein, ist es aber leider nicht immer. «Denn wer mir meinen Komfort verweigert oder wegnehmen will, der will mir schaden – und der soll mich mal kennenlernen!»


Andreas Gerlach ist Chefarzt in der Geriatrie des St. Marien-Hospital in Lünen, Deutschland.

Dieser Beitrag erschien in NOVAcura – Das Fachmagazin für Pflege und Betreuung, Jahrgang48/Heft9/2017, vielen Dank für die Gelegenheit zur Zweitverwertung!