Von Frank Brunner, Mut – Magazin für Lösungen
Anna Ryzek packt die letzten Bücher aus ihrem Ikea-Regal in den Umzugskarton. Ihre Mutter steht daneben und sagt: «Es wird Zeit, dass sie auszieht.» Die Tochter lächelt, schliesst die Kiste, packt sie auf einen Transportroller zu anderen Kartons und schiebt alles aus der Wohnung. Sechs Jahre hat sie bei ihren Eltern gelebt. An diesem Donnerstagmorgen wechselt sie in eigene vier Wände.
Während Anna Ryzek – Brille, Zopf, buntes Kleid – auf den Lift wartet, sagt sie: «Eigentlich wollte ich in eine WG ziehen, leider hat das nicht geklappt.» Die 25-Jährige büffelt für ihre mündliche Abschlussprüfung als Erzieherin.
Daher ist es praktisch, dass ihr neues Domizil in der Nähe liegt – genau eine Etage weiter unten. «Ich hätte nie gedacht, dass ich in diesem Haus ein Appartement bekomme», erzählt sie und schwärmt von Gartentagen, an denen Mieter gemeinsam die Grünanlagen gestalten, von Gesprächen mit Nachbarn in den Laubengängen.
In der «Vaubanaise», einem Wohnprojekt in Freiburg, leben Menschen mit und ohne Behinderungen, Rentner, junge Familien, Studis und Azubis, wie Anna Ryzek.
Die Idee ist nicht neu. 1993 eröffnete das erste Mehrgenerationenhaus in Deutschland.
In Mehrgenerationenhäusern können sie jedoch Kontakt zu jüngeren Bewohnern pflegen und Verantwortung übernehmen, etwa indem sie Schülern beim Lernen oder Eltern bei der Kinderbetreuung helfen. Derzeit fördert die Bundesregierung bundesweit rund 540 Mehrgenerationenhäuser mit jeweils 40’000 Euro.
In Freiburg schlossen sich im Jahr 2010 vier Familien zusammen, deren Kinder mit einem Handicap leben. Die Familien gründeten eine Genossenschaft, kauften der Stadt ein Grundstück ab, engagierten Architekten und Baufirmen. Rund acht Millionen Euro kostete das Projekt.
2013 zogen die ersten Mieter ein, heute leben 75 Menschen hier. Sie sind zwischen drei und 89 und verteilen sich auf 40 Wohnungen und Wohngemeinschaften.
Knapp ein Drittel lebt mit Einschränkungen wie Multipler Sklerose, Downsyndrom oder Autismus.
Donnerstagmorgen. Regen peitscht durch die Strassen, der Himmel wölbt sich grau über das sonst sonnenverwöhnte Freiburg. Elke und Robert Ryzek, beide Mitte 60, wagen trotzdem einen Rundgang durch das Quartier Vauban, in dem bis 1992 französische Soldaten stationiert waren, in einer Kaserne, benannt nach General de Vauban.
Mittlerweile leben hier knapp 5600 Menschen in einer Siedlung mit Passivhäusern, Solarstrom und weitgehend autofreien Strassen. Elke Ryzek, gelernte Buchhalterin, sagt: «Wir wollen als Rentner noch was erleben.» Sie verkauften ihr Haus bei Hannover und zogen nach Freiburg.