Von Andreas Sidler, Age-Dossier
Frau Perrig-Chiello, wie stark sind Generationenbeziehungen heute noch?
Pasqualina Perrig-Chiello: Innerhalb der Familie herrscht nachweislich eine grosse Solidarität zwischen den Generationen. Das zeigt sich etwa in den kürzlich durchgeführten Studien des BAG über betreuende Angehörige.
Die Generationenbindungen innerhalb von Familien sind also so stark wie eh und je?
Sie sind stark geblieben, die Zahl dieser Bindungen nimmt aber ab. Die Anzahl Familienmitglieder wird im Durchschnitt kleiner und die Zahl von kinderlosen Personen steigt. Gesamtgesellschaftlich öffnet sich dadurch eine Lücke.
Können Nachbarinnen oder Mitbewohner in einer generationengemischten Wohngemeinschaft oder Siedlung diese Lücke bei den Generationenbeziehungen füllen?
Tatsächlich verändert sich der Familienbegriff derzeit. Und die Leute bilden Beziehungssysteme, die wie eine Familie funktionieren. Dennoch lässt sich die familiale Generationenbeziehung nicht so leicht ersetzen oder nachbilden.
Sie formt sich aus einer biografisch verankerten emotionalen Basis heraus und ist eine Bindung, der man selbst in einer konfliktbelasteten Familie nicht so leicht entkommen kann. In der Familie teilen die Generationen zudem eine gemeinsame Identität.
Auch Personen, die nicht blutsverwandt sind, werden als Familie bezeichnet.
Die Nachbarschaft hat im Gegensatz dazu eine sehr heterogene Struktur. Ich habe dort die Wahl und die Freiheit, mich zurückzuziehen oder sogar wegzuziehen. Mit der Nachbarschaft werden somit notgedrungen andere Erwartungen verbunden als mit der Familie.
Ergibt es denn aus gesellschaftlicher Sicht überhaupt einen Sinn, generationengemischte Wohnprojekte zu fördern?
Es ist für das soziale System gesund, wenn sich die Generationen und auch andere soziale Gruppen mischen. Eine verstärkte Segregation wäre unheilvoll.
Unsere Forschung zeigt, dass die Generationen ausserhalb der Familien immer weniger voneinander wissen. Und je weniger man voneinander weiss, desto eher entstehen Projektionsflächen für Ängste, für negative Stereotypen oder sogar für Feindbilder, dazu gehört z.B. das Bild vom reichen Alten, der sich in den Sozialwerken bedient.
Kontakte zu jüngeren oder älteren Nachbarn können dem entgegenwirken. Das ist umso wichtiger, weil wir in einer Viergenerationengesellschaft leben, aber keine Erfahrung damit haben. Wie das geht, müssen wir zuerst gemeinsam lernen.
Kontakte mit anderen Generationen werden auch von älteren Personen selbst gewünscht. Welche Erwartungen knüpfen sie daran?
Verschiedene. Eine zentrale Rolle spielt die Angst, im Alter ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.
«Altersghetto» ist ein oft gehörter Begriff. Wer in einer dem Alter zugewiesenen Umgebung wohnt, fühlt sich häufig stigmatisiert.
Der Wunsch nach einer altersgemischten Umgebung entspringt also vor allem der Ablehnung von Alterssiedlungen und Heimen?
Nicht nur. Verlust und Tod sind Themen, mit denen man sich im Alter auseinandersetzen muss. In einem Umfeld, wo nur alte Menschen leben, wird diese Auseinandersetzung vielfach und ständig reflektiert. Viele Menschen empfinden das als belastend. Die Auseinandersetzung mit jüngeren Menschen und ihren Bedürfnissen durchbricht dies.