An einem sonnigen Herbsttag im Jahr 2009 radelt der pensionierte Redakteur Bruno Bienzle mit seinem Schwiegersohn Andreas über die Schwäbische Alb, eine vertraute Strecke. Er kennt jede Kurve, beinah jeden Schachtdeckel, auch den falsch verlegten in Lenningen, der eine Handbreit aus der Strasse ragt.
Viele Male ist er dem Hindernis ausgewichen. An diesem Tag blickt er kurz über die Schulter, um seinen Schwiegersohn davor zu warnen, doch als er wieder nach vorn schaut, ist es zu spät auszuweichen, er bremst erschrocken und zu hart und überschlägt sich.
In der Unfallklinik von Tübingen stellen die Ärzte fest, dass er sich bei dem Sturz den vierten und fünften Halswirbel gebrochen und das Rückenmark verletzt hat. Das Nervensystem und die Atmung waren dadurch lahmgelegt.
alzheimer.ch: Herr Bienzle, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie die Folgen dieses Unfalls erkannten?
Bruno Bienzle: Sie wurden mir nur langsam klar. Ich war ja vollkommen immobil, wurde fünf Monate künstlich beatmet und ernährt, konnte nicht reden, das war das Schlimmste. Als ich einigermassen stabil war, wurde ich ins Büro des Arztes geschoben, der mir am Bildschirm zeigte, wie man versucht hatte, die Wirbelsäule zusammenzuschrauben.
Was sagte der Arzt?
«Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie sich aus eigener Kraft nie wieder bewegen können. Wenn es Fortschritte gibt, dann im Millimeter-Bereich.»
Wieviel Zeit verging, bis Sie wieder sprechen konnten?
Der erste Versuch der Kommunikation war eine Tafel mit dem Alphabet. Meine Frau Annerose zeigte mit dem Bleistift auf einen Buchstaben. Und wenn ich nickte, notierte ihn unsere Tochter Rosanna.
So haben wir innerhalb einer Stunde den Satz zusammengestoppelt: Ich bin Teil der Schöpfung und möchte es bleiben. Einer der nächsten Sätze war: Solange es Menschen gibt, denen wir etwas bedeuten, sind wir gehalten, durchzuhalten. So denke ich bis heute. Auch, wenn ich verzweifelt bin.
Glauben Sie an Gott?
Ich glaube an das Wunder des Lebens. Das Leben wird uns geschenkt, wir tun nichts dazu. Das wurde mir klar, als unsere Tochter Rosanna zur Welt kam. Eine Spontangeburt, bei der meine Schultern die Fussschalen des Gebärstuhls ersetzen mussten. Ich weiss noch, wie ich damals dachte, jetzt lebt sie und atmet, was für ein Wunder.
Diese Erkenntnis erschwert es mir heute, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich bin unsicher, ob ich dazu bereit und in der Lage bin, auch, ob ich das darf. Ich habe keine Angst vor dem Tod.
Wie lange lagen Sie im Krankenhaus?
Sechzehn Monate, vierhundertsechsundachtzig Tage.
Gab es einen Tiefpunkt?
Es war in den ersten Monaten, diese totale Perspektivlosigkeit, das Ausgeliefertsein und die Angst vor dem Ersticken.
Aber Sie lagen doch auf der Inensivstation, wo Patienten permanent überwacht werden?