Der Preis für trügerische Sicherheit - demenzjournal.com
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Streitfrage

Der Preis für trügerische Sicherheit

Die Kritik am Haus Wäckerling richtet sich nicht in erster Linie an die Heimleitung, sondern an Entscheidungsträger wie Gesundheitsdirektion und kantonale Denkmalpflege, die denkmalschützerische Aspekte regelmässig stärker gewichten als menschliche. PD

Gitter an den Balkonen eines Pflegeheims sorgen seit Jahren für einen Konflikt in der Zürcher Gemeinde Uetikon am See. Die Streitfrage: Dürfen zur Sicherheit von Menschen mit Demenz ethisch umstrittene Mittel eingesetzt werden?

Eine Demenzpatientin betritt den Balkon des Hauses Wäckerling und schaut auf den Vorplatz hinab. Eisengraue Stäbe zerschneiden die Landschaft in Streifen. Die zwei Meter hohe Konstruktion prägt die Aussicht seit Herbst 2015.

Damals entschied sich die Heimleitung für die Absturzsicherung, um den Bewohnenden den Zugang zu den Balkonen auch ohne Begleitung zu ermöglichen. Seither wird um die Gitter gestritten.

Während Kritiker sie als Verletzung der Menschenwürde betrachten und auf andere Lösungen pochen, stellen sich die Verantwortlichen im Haus Wäckerling auf den Standpunkt, bisher hätten sich weder Bewohnende noch deren Angehörige über diese Lösung beschwert.

Einer, der sich mit diesem Argument nicht zufriedengeben will, ist Markus Brandenberger, der ehemalige Heimleiter des Uetiker Bergheims. «Bewohnende und ihre Angehörigen stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Betreuungsinstitution», gibt er zu bedenken. Dass man es sich mit der Heimleitung und den Pflegenden nicht verscherzen wolle, sei nachvollziehbar.

Deshalb setzt er sich an ihrer Stelle vehement für eine neue Lösung am Haus Wäckerling ein – allerdings bisher mit wenig Erfolg. Denn die Heimleitung hat sich den Segen der relevanten Behörden längst gesichert.

Glas statt Gitter

Der Denkmalschutz hat an der Sicherung nichts beanstandet, eine Alternative aus Glas hingegen abgelehnt. Brandenbergers Intervention bei der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) hat immerhin aber zu einem Kompromiss geführt, zu einer Reduktion der Höhe von 2 Meter auf 1,40 Meter.

«Die neue Lösung stellt eine optische Verbesserung für die Bewohnenden dar», findet Raphael di Gallo, Verwaltungsratsmitglied der di Gallo Gruppe, der das Haus Wäckerling angehört.

Diese Höhe sei im Bereich von Absturzsicherungen üblich und biete Schutz, ohne die Sicht einzuschränken. Er favorisiere diese Lösung gegenüber Glas auch deshalb, weil sie nicht die Gefahr eines Wärmestaus auf den Balkonen berge.

Die tieferen, fein strukturierten Abschrankungen liessen den Balkonbereich luftiger wirken, und durch die Begrünung mit Geranien könne die Vegetationszeit aktiv miterlebt werden, führt er aus. Diese Lösung wird auch von der Gesundheitsdirektion, der UBA sowie der Kantonalen Denkmalpflege unterstützt.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

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«Dass wir in diesem Gremium eine optisch ansprechende und sichere Lösung gefunden haben, die den heutigen Geländenormen entspricht, freut uns sehr», sagt di Gallo.

Weniger erfreut ist Brandenberger: «Für mich ist das eine Scheinlösung. Sie entspricht weder heutigen Normen noch zeitgemässer Praxis in Institutionen der Schweiz», sagt er.

Die meisten Bewohnenden in Demenzabteilungen seien Frauen. In der Schweiz sind Frauen durchschnittlich 1,65 Meter gross, im Alter eher kleiner. «Die typische Bewohnerin hat also bei einer 1,40 Meter hohen Konstruktion beim Blick in den Garten Eisenstangen vor den Augen.»

Brandenberger versteht nicht, wieso andere praxiserprobte Lösungen aus Glas und/oder Metall in einer Gesamthöhe von 1,20 Metern nicht in Betracht gezogen werden.

Aggressionen und Panikreaktionen

Gleicher Meinung ist der Ethiker Heinz Rüegger: «Ich käme mir vor wie in einem Gefängnis.» Auch wenn Menschen mit Demenz oft nicht mehr in der Lage seien, ihre Gefühle zu artikulieren, könnten die Gitter durchaus negative Reaktionen auslösen.

Was damit gemeint ist, weiss Markus Brandenberger aus seiner Zeit als Leiter eines alterspsychiatrischen Pflegeheims: «Menschen mit Demenz haben kein Interesse daran, über Brüstungen zu klettern, sie haben oft einen grossen Bewegungsdrang oder glauben, etwas erledigen zu müssen.»

Er ist der Überzeugung, dass Sicherheitselemente leitend statt begrenzend wirken sollten. Dann führe diese Unruhe kaum zu gefährlichen Situationen. Fänden sich die Bewohnenden allerdings plötzlich Hindernissen gegenüber, könne das Aggressionen oder Panikreaktionen auslösen.

Doch wäre es nicht ebenso unethisch, aufgrund solcher Überlegungen darauf zu verzichten, die eine Ausnahme zu schützen?

Ethiker Rüegger findet: «Sicherheit ist nicht das einzige schützenswerte Gut. Die Freiheit hat ebenso grosse Priorität.»

Das gelte auch für Demenzabteilungen, denn Pflegeheime seien keine Hochsicherheitstrakte. Ethische Grundsätze hätten für alle Menschen zu gelten. «Natürlich haben auch Massnahmen wie abgeschlossene Türen oder Gartenrundwege ohne Ausgang ihre Berechtigung», sagt er. Aber die Freiheitseinschränkungen müssten auch auf Demenzstationen so diskret wie möglich sein.

Die optimale Lösung gibt es nicht

Nachdem sich mit dem Fall bereits alle entscheidungstragenden Instanzen beschäftigt haben, ist nicht mehr zu erwarten, dass sich noch etwas ändert. Trotzdem kann die Frage, welche Lösung die optimale gewesen wäre, andere Betreuungsinstitutionen in Zukunft bewegen.

Felix Bohn, Fachberater für demenzgerechtes Bauen, der auch für die Balkone des Hauses Wäckerling zu Rate gezogen worden war, versucht sie zu beantworten. Er gibt allerdings zu bedenken, dass die Situation derart einzigartig sei, dass sie sich kaum mit anderen Beispielen vergleichen lasse.

Da das Haus unter Denkmalschutz steht, kam eine Absperrung aus Glas wegen durch das Sonnenlicht entstehender Reflexionen nicht in Frage. Die Balkone sind zudem so schmal, dass Abstandhalter sie praktisch unbenutzbar gemacht hätten. Die Ruhebänke, die momentan auf den Balkonen stehen, hätte man jedenfalls entfernen müssen, um ausreichend Bewegungsraum zu schaffen.

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Seine Kritik richtet sich nicht in erster Linie an die Heimleitung, sondern an die Entscheidungsträger, die denkmalschützerische Aspekte regelmässig höher gewichten würden als menschliche.

Bohn stellt auch die grundsätzliche Frage, wie wichtig die Begehbarkeit der Balkone überhaupt ist. Denn: «Im Sommer ist es dort aufgrund der Südlage heiss, im Winter kalt.» Es sei deshalb zu überlegen, ob nicht ein direkter Gartenzugang zu schaffen sei, statt darauf zu beharren, dass die Bewohner die Balkone nutzen sollen.

Gerade für Menschen mit Demenz seien sinnliche Erfahrungen wichtig, die nur ein Garten bieten könne. Der jetzige Zugang sei für die Bewohnenden jedoch zu kompliziert, sie müssten Treppe oder Lift nutzen, was den meisten nur in Begleitung gelänge.

Sein Lösungsvorschlag: eine Rampe, die die Station im 1. Stock mit dem Aussenbereich verbindet. Nachdem das Amt für Denkmalschutz für diese Idee kein grünes Licht gegeben hat, kommt Felix Bohn zu einem letzten Schluss: 

«Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt vertretbar ist, in diesem Haus eine Demenzstation anzubieten.»

Brandenberger indes möchte nicht aufgeben: «Ich bin sicher, dass mit etwas Nachsicht bei der Denkmalpflege, etwas Nachdruck seitens Gesundheitsdirektion und etwas Einsicht beim Haus Wäckerling würdige, sichere und denkmalpflegerisch vertretbare Lösungen gefunden werden könnten.»

Audiobeitrag: Bauen für Demenz