Das Wichtigste sind die Beziehungen - demenzjournal.com
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Kulturen der Sorge

Das Wichtigste sind die Beziehungen

Eine Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Demenz in das alltägliche Leben, ein Finden von Wegen aus der Hoffnungslosigkeit, eine einfühlsame Anteilnahme an Freude und Schmerz – all dies geschieht und gelingt nur im Zwischenmenschlichen, im Relationalen, im Gegenseitigen und im Gemeinsamen. Bild Dominique Meienberg

Wir brauchen eine nachhaltig abgesicherte und verantwortungsvolle Demenzhilfe – darüber ist man sich einig. Doch wie genau kann eine «Sorge um Menschen mit Demenz» gelingen? Welche Möglichkeiten können genutzt, welche Konzepte erstellt und welche Ressourcen mobilisiert werden?

Eine Kultur der Sorge

Am 2. Kongress Kulturwissenschaftliche Altersforschung an der Universität Zürich2 richtete sich die Aufmerksamkeit auf Konstellationen der Sorge bei Demenz. Diese wurden aus der Perspektive unterschiedlicher kulturwissenschaftlich relevanter Fachdisziplinen betrachtet und diskutiert. Leitbild der Tagung war eine «Kultur des humanen Alterns», in der auch eine Integration von Menschen mit Demenz gelingt.

Eindrücke aus dem Kongress «Kulturen der Sorge bei Demenz», der vom 18. bis 20. November 2016 in Zürich über die Bühne ging.

Wie unterschiedlich die wissenschaftlichen und privaten Hintergründe der Teilnehmer:innen auch waren, kristallisierte sich nicht nur in den Referaten, sondern auch in den angeregten Unterhaltungen während den Pausen heraus: Was alle verbindet ist die Sorge um Menschen mit Demenz.

Eine Sorge, die nicht ausschliesslich von negativen Bildern geprägt ist, sondern eine, die einen differenzierteren Blick auf das erlaubt, was tagtäglich von Angehörigen, Freunden und Professionellen geleistet wird. Es ist eine Sorge, die viel Engagement, Kraft und Ausdauer beinhaltet und um Beziehung zwischen einander bemüht ist.

«Im Grunde sind es doch die Beziehungen zu den Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben.»

Wilhelm von Humboldt

Um einen kleinen Einblick in den Kongress zu geben, haben die beiden Autorinnen in kulturwissenschaftlicher, empirischer Weise «erforscht», welche Vorträge, Gedanken und Inputs bei den Besucherinnen und Besuchern einen ganz besonderen Eindruck hinterlassen haben. Sie werden im Folgenden in Auszügen zu Wort kommen.

Ein Referat, welches von vielen Anwesenden besonders gerühmt wurde, war jenes der Kanadierin Pia Kontos. Die auf die Erforschung von Langzeitpflegekonzepten spezialisierte Sozialwissenschaftlerin gewährte uns einen Einblick in die aussergewöhnliche Arbeit von professionellen «Elder-Clowns», also Clowns in Begegnung mit demenzbetroffenen Menschen. Arlette Graf, Studentin und Helferin am Kongress beschreibt dazu treffend:

«Frau Kontos hat anhand der Beispiele von Clowns in Alters- und Pflegeheimen aufgezeigt, wie Menschen mit Demenz mit Kreativität, Musik und Kunst erreicht werden können. Ihre Forschung veranschaulicht eindrücklich, dass demenzkranke Menschen keineswegs ‹ohne Geist› sind und durch einfühlsame und fürsorgliche Pflege eine wechselseitige Beziehung aufrechterhalten werden kann. Bei allem Schmerz und Leid, welche mit einer demenziellen Erkrankung einhergehen, erleben demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen durchaus auch Momente der Freude und des Glücks – für diese Momente kann man sorgen.»

Auch für Gabriela Kaes, Leiterin der Stabsstelle Demenz der Zürcher Alterszentren, klingt das Referat von Pia Kontos, aber auch die persönliche Begegnung mit ihr ganz besonders nach. So fand sie darin einerseits Bekräftigung und Unterstützung für ihren Berufsalltag. Anderseits sei sie selber als «Begegnungsclownin, mit alten Menschen und Menschen mit Demenz unterwegs», weshalb sie die Worte von Frau Kontos besonders inspiriert hätten.

Sorge-Figurationen bei demenziellen Erkrankungen in der Schweiz

Das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Projekt untersucht, wie sich die Lebensqualität von Menschen mit Demenz im häuslichen Kontext möglichst lange erhalten lässt. Dafür bedarf es neben professioneller Hilfe eines sorgenden Umfeldes. Dieses besteht nicht nur aus nächsten Angehörigen, sondern auch aus lebensweltlichen und zivilgesellschaftlichen, kirchlichen und professionellen Akteuren. Solche Konstellationen werden unter dem Begriff Sorge-Figurationen mit Methoden der qualitativen Kulturforschung exemplarisch untersucht. Ziel ist es, Erkenntnisse über Ressourcen und Potenziale, aber auch über Probleme und Desiderate des alltäglichen Umgangs mit Demenz zu gewinnen.

Bestärkung für das eigene Handeln und Anregung zum Nachdenken erhielt auch Silvia Baumert. Bei der Alzheimervereinigung Zürich ist sie in der Beratung und Zugehender Beratung sowie im Fachbereich Bildung tätig. Die Beiträge des Kongresses haben ihr gezeigt, dass «wir von der Alzheimervereinigung Zürich», wie sie selber sagt, «auf dem richtigen Weg sind und die richtige Einstellung verfolgen.»

Sehr bewegt hat sie insbesondere der Abschlussvortrag des deutschen Psychologen und Gerontologen Andreas Kruse. Dieser thematisierte den Moment der Hoffnungslosigkeit nach der Demenzdiagnose und sprach über Möglichkeiten, gemeinsam Wege aus ebendieser Hoffnungslosigkeit zu finden.

Marcel Briand

Der Begegnungsclown

Mit dem Begegnungsclown Marcel Briand unterwegs in der Sonnweid. weiterlesen

Silvia Baumert habe hier Anregungen gefunden, die sie mit in ihren Arbeitsalltag nimmt. Denn in der Beratung der Alzheimervereinigung geht es ihr darum, «Voraussetzungen und Möglichkeiten der Unterstützung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen zu schaffen. Ziel ist, eigene Lösungsstrategien zu erkennen, die helfen, in Interaktionen mit der Umwelt zu bleiben, sich auszudrücken und Lebendigkeit zu schaffen».

Grundlagen für eine gelingende Unterstützung für Menschen mit Demenz und deren Umfeld zu schaffen, waren auch für Cornelia Kaya, Leiterin der SocialCare Beratung Spitex Zürich Limmat AG, ein zentrales Thema:

«Der Kongress hat mir nochmals deutlich aufgezeigt, dass eine sinnvolle und sinnstiftende Integration von Menschen mit Demenz in die Gesellschaft eine Koordination aller Involvierten voraussetzt».

Essentiell dafür sei für sie eine selbstreflexive Grundhaltung, im Sinne eines Nachdenkens über das eigene und/oder professionelle «Verständnis» von Unterstützung, und diese Haltung wenn möglich zu «erweitern».

Besonders in Erinnerung geblieben ist Cornelia Kaya der Vortrag von Thomas Klie. Der aus Freiburg im Breisgau stammende Jurist und Gerontologe Klie sprach über das Konzept der Caring Communities, welches er als eine Perspektive auf Sorge und Pflege in einer immer älter werdenden Gesellschaft für alle als gewinnbringend erachtet. In seinem Vortrag unterstrich er die Tragweite des nachbarschaftlichen Umfelds.

Wie kann also eine Sorge um Menschen mit Demenz gelingen? Und was zeichnet eine Kultur der Sorge aus? Darüber waren sich alle Teilnehmenden einig: Der Grundpfeiler von Sorge sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Demenz in das alltägliche Leben, ein Finden von Wegen aus der Hoffnungslosigkeit, eine einfühlsame Anteilnahme an Freude und Schmerz – all dies geschieht und gelingt nur im Zwischenmenschlichen, im Relationalen, im Gegenseitigen und im Gemeinsamen.

Der Appell richtet sich also an uns alle, gefragt sind nicht (nur) ausgereifte Konzepte und Strategien, sondern genauso kleine Gesten der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, des Hinsehens und der Zuwendung. In einer gelingenden Kultur der Sorge sind wir alle gefordert.


Anlass des Kongresses war der Start des SNF-Forschungsprojektes «Sorge-Figurationen bei demenziellen Erkrankungen in der Schweiz», das von Professor Harm-Peer Zimmermann geleitet und von den Autorinnen des vorliegenden Beitrages in den kommenden drei Jahren bearbeitet wird. Institutionell verortet ist dieses Projekt am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich.

Mit dem Kongress sollten erstens aktuelle Perspektiven auf die Sorge um Menschen mit Demenz eröffnet werden. Dies ist mit der Beteiligung einiger der im deutschsprachigen und internationalen Raum herausragendsten Forscher und Forscherinnen aus dem Bereich der sozial- und kulturwissenschaftlichen Alters- und Demenzforschung gelungen. Zweitens sollte der Kongress ein Austausch- und Vernetzungsforum für Wissenschaftler:innen aus dem Bereich der Demenzhilfe sein. Der grosse Zuspruch verschiedenster praktischer Akteure und Akteurinnen sowie von Privatpersonen hat die Veranstaltung nicht zuletzt auch deshalb zu einem besonderen Erfolg werden lassen, da diese ihre Erfahrungen direkt in die Kongressdiskussion eingebracht haben